Variationen zu Emily
Kaufhauseingang und eben auch Frauen, die sich zu zweit oder zu dritt einen gelassenen Spaziergang gönnten und dabei wahrscheinlich über Männer herzogen, die neuesten Errungenschaften der Haarpflegeindustrie diskutierten und das politische Geschehen auf Sätze wie „Wieso, er ist doch einfach süß“ reduzierten.
Er zog die Beine an, um den entscheidenden Satz sagen und gleich aufstehen zu können. In das Schweigen hinein sagte der Pfarrer nachdenklich: „Sie sprechen in Ihrem Text die Liebe an. Die menschliche Liebe.“ Er sank in seinen schönen Stuhl zurück, legte die Hände aneinander und stellte die Füße unter dem Tisch auf eine für Tom unsichtbare, aber sicher auch antike Stütze, gemacht für den Erzbischof vo n Trier, 1760. „Es ist eigentümlich, was die Romantiker uns damit für ein schreckliches Geschenk gemacht haben,“ fuhr er gemächlich fort. „Für mich als Mann Gottes ist die wahre Liebe die Liebe des Herrn zu seinen Geschöpfen, eine langmütige, duldsame, verzeihende Liebe, die niemals endet. Für die Alten dagegen war Liebe ein Synonym für das fleischliche Begehren, wie es uns Menschen seit dem Sündenfall eigen ist. Aber die Menschen im neunzehnten Jahrhundert, der Herr erbarme sich ihrer, benannten damit ein Phänomen, zu dessen bedenklichsten Ausprägungen die Vergötterung des anderen Geschlechts gehört.“
Er trank einen Schluck Tee aus seinem Keramikbecher, auf dem „Fuck Monday“ stand, schmatzte ein wenig und legte die Hände zu einem kleinen Dach zusammen. „Na ja, mittlerweile ist ja auch die Verherrlichung des eigenen ein wenig en vogue. Aber was ich sagen wollte: Was uns heute als Liebe verkauft wird, ist weder transzendental noch einfach, funktional und daher wenigstens in Maßen menschlich. Heute segeln dank der trunkenen Gefühlsprosa unbeschäftigter Romantiker unter der Flagge der Liebe die Geilheit, die Eitelkeit, der Egoismus, aber auch Sehnsüchte nach Belobigung, nach Vertrauen, nach Anerkennung und nach der Befriedigung manchmal ganz seltsamer körperlicher Begierden. Und natürlich die Angst vor dem Alleinsein und dem Sterben. Es ist eine ganze Armada von Wünschen, die gemäß dieser unreifen Lehre von einer einzigen Person erfüllt werden sollen.“
Er zog die Brauen zusammen, reckte einen weißen, noch nie durch körperliche Arbeit gekränkten Zeigefinger empor und hob die Stimme. „Glauben Sie, junger Mann, dass das ein einziger Mensch leisten kann? Die Wünsche ändern sich, die Menschen altern, die Sexualität wird schwächer und benötigt ganz andere, stärkere Auslöser. Die Gebrechen nehmen im Laufe des Lebens zu. Die einzig richtige Schlussfolgerung aus dieser pubertären Definition von Liebe wäre, dass der Mensch sich die jeweils adäquaten Partner wählen sollte, also seine Liebe jeweils auf die Person überträgt, die aktuell am besten in der Lage ist, die darin eingeschlossenen Wünsche zu erfüllen. Also ständiger Partnerwechsel! Oder man reduziert das ganze auf den ersten, den ursächlichen Trieb und verklärt ihn. Und wohin führt uns das? Zum primitiven Paarungsverhalten der Neandertaler. Da ist ein Arsch, hinter dem noch niemand hockt – also ist er es, der mich zum Heil führen wird!“
Probte der Mann seine neue Sonntagspredigt, oder ließ er einfach den uralten Zorn des alttestamentarischen Predigers ab? Thomas nickte und versuchte interessiert auszusehen. Er hatte nicht die Absicht, sich mit einem möglicherweise geschulten Dialektiker auseinanderzusetzen. Außerdem fand er die Vorstellung absolut nicht abschrecke nd, als Neandertaler ein am Flussufer sich vorbeugendes, plattnasiges Neandertalerweibchen von hinten zu schwängern. Er sah unauffällig auf seine Armbanduhr. Jetzt sollte er wirklich gehen. Er öffnete den Mund, um sich für den Tee und die Unterhaltung zu bedanken, als der Pfarrer ein wenig mühsam aufstand und zu dem Teakholzregal herüberging, das an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand bis zur Decke reichte.
Er suchte eine Weile zwischen den überwiegend ordentlich, Rücken neben Rücken aufgestellten Büchern herum und kehrte dann mit einem Stück Papier zum Tisch zurück. „Hier!“, bellte er und legte einen Ausschnitt aus einem dieser kostenlosen Schundblätter, die einmal wöchentlich im Briefkasten steckten und allerlei irdische Güter, aber auch sehr tiefgehende menschliche Kontakte anboten, vor Thomas auf den Tisch. „Swinger-Club“, stand da in fetten Buchstaben. „Sexuell freizügige Damen
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