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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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als er ansetzte, die Straße zu überqueren, füllte eine tückische Pfütze seinen rechten Schuh zu Hälfte. Zum wievielten Mal geriet er jetzt eigentlich in dieses klaffende Loch, das seine Herkunft einer zerbröselten Platte im Rinnstein zu verdanken hatte! Es war wie am Murmeltiertag – immer wieder dasselbe, aber in seinem Falle niemand in der Nähe, dem er eins aufs Maul geben konnte.
    Er wich einem Nebelschwaden versprühenden Bus aus und gelangte hinkend auf die gegenüberliegende Seite. Tante Annie, die ältliche Näherin in der Änderungsschneiderei, winkte durch ihr mit Sütterlin-Klebebuchstaben geschmücktes Schaufenster. Er hatte noch nie einen Auftrag für sie gehabt, aber sie grüßte ihn immer, wenn sie ihn vorbeikommen sah. Nette Geste, eigentlich. Trotz seines schmatzenden Schuhs nahm er nun Tempo auf. Der Pfarrer würde ungern auf die Tagesschau verzichten wollen, auch wenn er nun endlich den lang ersehnten Beitrag für sein monatliches Erbauungsblättchen erhalten würde und sich dadurch nicht wieder selbst mit allen sechzehn Seiten abquälen musste.
    Aus einem h albgeöffneten Fenster in dem hässlichen fünfstöckigen Gebäude, das in den Sechzigern für die Mitarbeiter der regionalen Zentralverwaltung der Post errichtet worden war, die schon seit Jahren nicht mehr existierte, drang der dünne, hohe Schrei einer Frau. Als der verklungen war, folgte das wüste Gebrüll eines offensichtlich ein wenig echauffierten Mannes. Dann kreischten und brüllten sie beide zusammen. Es handelte sich wohl um den Vorabendkrimi: fingierte zwischenmenschliche Gewalt sorgt für den Abbau des in heutigen Zivilisationen leider häufig latent vorhandenen Triebstaus. So hatte es ein sehr unabhängiger Fachmann der Gesellschaftswissenschaften formuliert. „Wir dürfen die Wirklichkeit nicht verdrängen“, sagte dieser Mann, dessen feingeistiges Gesicht sich bei dem Wort Wirklichkeit voller Ekel verzog. „Kinder erhalten nach den neuesten Studien der Fachhochschule für Vergleichende Anthropologie in Utah die prägendsten Informationen aus dem Fernsehen. Somit müssen wir dieses Medium zu einer so lehrreichen wie unterhaltsamen Institution für Minderjährige ausgestalten.“
    Nach seinem Auftritt in der Sendung „Spezialisten unter sich“ folgte in dem Privatsender ein sogenannter Erotikfilm, in dem scheinbar minderjährige und meistens weitgehend nackte Mädchen einem schnurrbärtige n und kotelettentragenden Schlossbesitzer Dinge vorführten, die ihn offenbar beunruhigten. Die Kamera zeigte ihn in seinem Versteck hinter einem dicken Samtvorhang, wie ihm der Schweiß in dicken Tropfen ausbrach, das Gesicht sich dramatisch verzerrte und er sich fast durch sein wahrscheinlich als Entrüstung zu deutendes Röcheln verraten hätte.
    Er näherte sich dem Gemüseladen der Familie Demirkan. Wie schön, dass es diese Menschen gab. Sie übernahmen kommentarlos die von den Einheimischen freiwillig geräumten ökonomischen Nischen und arbeiteten geduldig an einem Wohlstand, über dessen Verlust die Deutschen während ihres Urlaubs in der Türkei ausdauernd jammerten. Außerdem zeugten sie gelegentlich atemberaubend schöne Mädchen, bei deren Anblick man sich mühelos die Ausstattung des Paradieses vorstellen konnte.
    Wie immer hatte n sich die ganze Familie und ein beträchtlicher Teil des umfangreichen Freundeskreises in dem kleinen Geschäft versammelt. Ein paar Kunden waren auch da und beteiligten sich an der lebhaften Diskussion – worüber wohl? Politik? Sport? Die gerade laufende Vorabendserie? Und da! Da war doch diese kleine Person, die im Brit bediente! Andrea! Ja, kein Zweifel, das hübsche Köpfchen und der schlanke, mädchenhafte Körper. Sie allerdings sprach nicht, sondern stand vor einem Kühlregal und wählte mit fein tastenden Fingerspitzen einen Kopfsalat aus.
    Er starrte sie durch die Schaufensterscheibe an und erzeugte dabei einen grauen Schleier auf der Scheibe. Das Kribbeln in der Magengrube ließ ihn fast vergessen, wie er aussah. Verglichen mit ihm in seiner tropfenden Plastikrobe aus den dreißiger Jahren und seinem albernen Käppchen war eine Vogelscheuche oder ein Bär im Abendanzug ein ä sthetischer Anblick. Aber es musste sein: Er betrat das Geschäft. Ein kurzes, staunendes Schweigen folgte seinem Auftritt auf dieser Bühne. Alle Blicke – schwarz, braun, ja, auch blau – wandten sich ihm zu. Dann, wie auf ein Kommando, senkten sich Augenlider, drehten sich Körper unauffällig zur

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