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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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da?“
    Er klopfte sinnlos auf das Manuskript in seiner Tasche und rief: „Thomas Klage, Herr Pfarrer! Ich bringe den Text.“ Augenblicklich öffnete sich die Tür, und der erleichterte Seelenhirte zwinkerte in der schroffen Helligkeit der Außenbeleuchtung. Sein Ohrring warf unklare Morsezeichen an die Türleibung. „Oh, schön, das Sie noch kommen, Tom. Entschuldigen Sie, das es so lange gedauert hat. Ich habe an meiner Predigt für den nächsten Gottesdienst gearbeitet.“ Gemeinsam gingen sie die ehrwürdige Treppe hoch, der etwas mehr Pflege den Lebensabend verschönt hätte.
    Es war ein leider sehr vernachlässigtes, aber immer noch attraktives Häuschen aus den späten Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in dem Generationen von Pfarrern gewohnt und ihre Predigten entworfen hatten. Es hatte sich trotz der unumgänglichen Modernisierungen eine Patina, eine liebenswerte Atmosphäre und ein Geruch nach Holz und Papier in diesem kleinen Nest gebildet, die es sofort heimelig machten. Allein, um in dieser Aura von Geruhsamkeit, von ungestörter Konzentration auf das Wesentliche und eines häufig angefochtenen Willens zur Führung eines vorbildlichen Lebens seine Tage hinzubringen, hätte Tom nichts dagegen gehabt, sich gelegentlich mit den Sorgen und Nöten von ein paar hundert oder tausend unentschlossenen Gläubigen zu beschäftigen. Und außerdem verdiente dieser Mann ja auch noch ein wenig Geld. Was verdiente eigentlich ein Pfarrer?
    „Möchten Sie ein Glas grünen Tee? Ich habe erst vor kurzem eine Kanne aufgesetzt.“ Tom mochte nicht ablehnen, hatte ja auch um diese Zeit noch nichts vor. Also setzte er ein fröhliches, jungenhaftes Grinsen auf und nickte: „Au ja, gern, Herr Pfarrer.“  Obwohl dieses fade Zeug mit Tee nicht mehr als den Namen gemein hatte und außerdem in einer Thermoskanne bereitgehalten wurde, die als Viehtränke hätte dienen können, befolgte der Pfarrer ein geheimnisvolles Ritual. Man musste offensichtlich vor dem Einschenken die Nase in die Öffnung der Kanne halten, höchst angetan murmeln, als wäre einem der Gral angeboten worden, dann das riesige Gefäß leicht schwenken, als wollte man einen alten, selten gewordenen Wein belüften, und dann unter weiterem Gemurmel vorsichtig einen Becher bis zur Hälfte füllen. „Wahrscheinlich nehmen Sie keinen Zucker, junger Mann?“ Der Ton, in dem diese Frage gestellt wurde, machte klar, dass man mit einer positiven Auskunft den Weg ins Zuchthaus oder auf die Galeere bereits zur Hälfte zurückgelegt hatte. „Nein, danke, ich nehme ihn gern so, Herr Pfarrer.“
    Das Getränk war dank der orangefarbenen Thermoskanne noch einigermaßen warm, schmeckte aber wie ein höchst wirksames Abführmittel. Er nippte einmal daran und beschloss dann, es einfach zu vergessen. Der Pfarrer hatte sich bereits in seinen antiken Schreibtischstuhl gesetzt und machte es sich nun darin bequem. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von müdem Wohlwollen, das er wahrscheinlich immer aufsetzte, wenn er mit einem seiner Schäfchen zu tun hatte. „Nun, und? Was haben wir denn da, mein Sohn?“ Er streckte die Hand aus. „Ich will hoffen, dass meine Hilfsbereitschaft neulich, die ja doch ein paar Unannehmlichkeiten mit sich brachte, zu einem halbwegs angemessenen Ergebnis geführt hat.“
    Sechs Seiten Text – Times, zwölf Punkt, eineinhalbzeilig, links oben geheftet – schmiegten sich in die weiche, alterslose Hand, als wären sie da zu Hause. Der Pfarrer las die Überschrift, blätterte geübt durch das Papier, das leise raschelte, und lächelte. Dann las er sich auf der dritten Seite fest, wo über den Ehebruch berichtet wurde. Gebannt folgten seine Augen den Zeilen, bis sich die Missetäterin ihrem Seelsorger anvertraute. Seine Brauen hoben sich: „Ja, Tom, das scheint mir recht gelungen zu sein. Und so realitätsnahe. Ich werde das wohl in der nächsten Ausgabe bringen.“ Und er läche lte zufrieden, wohl in dem Bewusstsein, dass sich hier gegenüber dem Bäckerblatt Punkte gewinnen ließen.
    Seine Schuld war abgetragen, und er konnte sich eigentlich langsam wieder auf den Weg machen. Es war zwar noch zu früh für die Kneipe, aber seitdem für manche Geschäfte die Ladenschlusszeiten bis in die Schlafenszeit ausgedehnt worden waren, gab es bis zehn Uhr auf den Straßen und in den Fußgängerzonen immer etwas zu sehen. Flanierende Paare, die üblichen Bettler und späten Punks, der einsame, dilettantisch seine Gitarre quälende Barde vor dem

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