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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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Seite: die Höflichkeit toleranter Südosteuropäer. Die Ausnahme bildete sie: Sie sah ihn an, als wäre er Jack the Ripper persönlich, der sich einen Kurzurlaub von seiner anstrengenden Tätigkeit gönnte.
    Er ließ sich von dem entgeisterten Blick nicht abschrecken, sondern trat mit einem munteren „Hi, du auch hier?“ vor sie hin. „Hallo“, murmelte sie unentschieden und versuchte, mit ihrem Salatkopf als Schutzschild an ihm vorbei zur Kasse zu gelangen. Er hielt sie am Arm fest und sagte: „Hey, Andrea, wir kennen uns doch – aus dem Brit!“ Sie sah ihn wieder an, schüttelte den Kopf und antwortete: „Stimmt, ich arbeite da. Und stimmt auch: Du bist nicht der e rste, der es so versucht. Verpiss dich, sei so lieb.“ Sie drängte sich resolut an ihm vorbei, bezahlte bei Herrn Demirkan, der mit plötzlich verdüstertem Blick an der Kasse stand, und verließ den Laden.
    Er war ein wenig überrascht. Nicht so sehr von der Reaktion: Damit musste man bei Frauen heutzutage rechnen. Schüchternheit war völlig aus der Mode gekommen, Erröten kam praktisch nicht mehr vor. Pampige, schroffe Antworten waren die Regel. Im Extremfall musste auch mit einem wohlgezielten Kniestoß in empfindliche Körperteile gerechnet werden. Aber sie hatte ihn nicht erkannt, und das wurmte ihn. Da saß er einen ganzen Abend vor ihr an der Bar, trank einen Hektoliter Bier, gab ein angemessenes Trinkgeld und war überhaupt ein mustergültiger Gast. Und sie sah in ihm einen billigen Schürzenjäger! Ein Irrtum. Sicher eine Folge seiner Verkleidung. Oder sie war so kurzsichtig wie Dioptrie im Buchladen.
    Er nickte Herrn Demirkan zu und trat ebenfalls vor die Tür, gerade noch rechtzeitig, um sie unter einem roten Schirm in eine Seitenstraße einbiegen zu sehen. Sein nasser Fuß machte ihn nicht gerade zu einem begnadeten Verfolger, aber er gab sich Mühe und kam ihr dadurch schnell näher. Sie ging ruhig und stetig, er dagegen lief fast. Als er schon ganz nahe war, räusperte er sich und streckte den Arm aus, um ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Doch er kam nicht dazu: Die kleine, schlanke Gestalt drehte sich um und zeigte ihm ein zartes, faltenloses Altmännergesicht, in dem ein erwartungsvolles Lächeln aufleuchtete: „Ja? Sie wünschen?“
    Er musste an einen Film denken, in dem sich ein schönes Mädchen plötzlich in eine abscheuerregende Missgeburt verwandelte. War das der jüngere Bunuel? Auch Serenas gruselige Metamorphose kam ihm in den Sinn. Aber das hier war wirklich ein kleines, gepflegtes Männchen, harmlos, wie aus einer Puppenstube entführt. „Oh, tut mir leid, eine Verwechslung!“ Und er drehte um und schlappte wesentlich weniger motiviert in Richtung auf das Pfarrhaus von Sankt Christophorus zu.
    Er hatte Zeit verloren, und nun kam er doch mitten in die Tagesschau. Aber vielleicht hatte er Glück, und der Pfarrer bevorzugte Nachrichten-Shows. Die kamen meist später am Abend und handelten aktuell vor allem von der Darmspiegelung einer Semiprominenten, die hoffte, auf diese unappetitliche Weise endlich richtig berühmt zu werden, vom Wetter und von möglichen Namen, den der Sohn einer mittelmäßig aussehenden, mittelmäßig intelligenten Exgeliebten eines mittelmäßigen ehemaligen Schlagerstars tragen würde. Die Geburt war offenbar nicht an einen Fernsehsender verkauft gewesen, und Publikum war wohl auch nicht zugelassen. Sonst hätte sogar sein halbwegs seriöses Blatt eine Meldung darüber bringen müssen – Kaiserschnitt oder einfach herausgewürgt? Schade eigentlich, um mit Sarah zu sprechen. Denn da hätte man wieder mal mit Scheiße und Ähnlichem Geld machen können.
    Das Licht über der Tür brannte – kaltes Licht, das von einer dieser modischen Energiesparlampen erzeugt wurde. Eine gute Idee, endliche Ressourcen für die kommenden Generationen zu schonen, wie das so hübsch gefühlig hieß. Aber das Resultat war leider eine abends wiederum kälter und härter erscheinende Welt. Als Antwort auf sein Klopfen mit dem zwergenhaften Löwentorso aus Messing, der anstelle einer elektrischen Klingel den Kontakt zum Hausherrn herstellen sollte, kam von irgendwoher aus dem Haus das abrupt abbrechende Gebrüll eines offensichtlich ein wenig echauffierten Mannes. Dann polterten Schritte eine Holztreppe hinunter. Durch das unterteilte Buntglasfenster in der Tür konnte er das blasse Schemen eines menschlichen Gesichts sehen. Der grüne Mund grimassierte. Heraus kam die zaghaft klingende Frage: „Wer

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