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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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direkte Weg in die Hölle. Na ja, staatliche Großpädagogik. Genug davon.
    Frauke und ich landeten in der Morgendämmerung bei mir. Dass wir gemeinsam gingen, gefiel Antonia natürlich nicht. Sie muss sehr eifersüchtig und gekränkt gewesen sein. Schließlich hatte sie sich um mich bemüht, und nun zog ich ihre eigene Schwester vor, die weder meine Zigaretten rauchte noch meine Lieblingsautoren kannte.
    Sie war zunächst sehr scheu, zog alle Vorhänge zu und machte das Licht aus, bevor sie sich bis auf Slip und T-Shirt auszog. Dann ging sie für eine ganze Weile ins Bad. Aber als sie im Dunkeln neben mir lag, erwärmte sie sich sehr schnell. Da brach das Lodern aus, das ich hinter ihrer kühlen Maske zu spüren geglaubt hatte. Und es war eine Menge Lava, die da aufgestaut gewesen war. Sie wusste um ihre Hemmungen, und deswegen konnte sie sie gut bekämpfen. Weil sie sie hasste, ihrer überdrüssig war, ihre Herkunft kannte: ein spießbürgerliches, prüdes Elternhaus, in dem die Eltern morgens bereits in der Tagesrüstung in Erscheinung traten, in dem der Austausch von Küssen und Zärtlichkeiten mit Menschen außerhalb der Familie verpönt war und Sex nach langer Probezeit und unter der Voraussetzung einer offiziellen Verlobung nur deshalb geduldet wurde, weil Menschen ja leider so sind und Kinder nur auf diese Weise in die Welt kommen können.
    Sie kämpfte gegen diese Anschauungen, wehrte sich gegen die Zumutungen, die über hunderte von Kilometern per Geistesfunk von ihrer Sippe an sie herangetragen wurden, und schlug ihr schlechtes Gewissen gewissenhaft tot. Es war wirklich beeindruckend, was aus diesem Zwiespalt zwischen anerzogener Prüderie und dem Abscheu davor für Funken geschleudert wurden. Sie überwand ihre Ängste immer wieder, trotzte tapfer allen vor ihr aufgehäuften Tabus und stürzte sich mutig in unbekannte Gefühlsgefilde, aus denen sie unversehrt, wenn auch schwer atmend und schweißbedeckt zurückkehrte. Ein kleiner Vulkan, dieses Mädchen. Von außen siehst du nicht viel, aber wenn du dich zu sehr näherst, haben dich die Lava, die Hitze und der Geruch schon überwältigt.
    Eine Zeitlang ging das gut, wenn man von den Folgen absieht. Ich wurde wegen der Übermüdung blass, trug ständig violette Augenringe zur Schau, und ich nahm sechs Kilo ab. Sie hatte mit meinem Einverständnis beschlossen, den Rest des Semesters und auch die anschließenden Semesterferien bei mir zu verbringen, was Antonia zu einer sehr plötzlichen Beendigung ihres Praktikums nötigte. Sie tauchte einfach nicht mehr in der Redaktion auf und schickte, soviel ich weiß, ein ausreichendes Attest von einem Gynäkologen. Frauke zog mit ihrem Rucksack zu mir, und ich gewöhnte mich an herumstehendes Geschirr, an frisch gewaschene Slips und BHs auf dem Badewannenrand, an ihren Geruch und ihre Haare in der Bettwäsche und an die verrauchte Bude, wenn ich von der Arbeit kam.
    Doch dann begann sie aus verständlicher Langeweile, ein paar Kurse an unserer Fachhochschule zu besuchen. Als Gasthörerin. Sie fand manches ganz interessant, entdeckte ihr Herz für die Sozialpädagogik und nahm an einigen Arbeitsgeme inschaften teil. Es kam vor, dass ich vor ihr zu Hause war, weil sie an einer anregenden Diskussion noch hatte teilnehmen wollen. Nach einer Weile schien sie mir unaufmerksam, wie abgelenkt durch nicht steuerbare Gedanken. Sie interessierte sich nicht mehr für meinen Beruf, saß häufig mit hängendem Kopf herum und antwortete auf meine Fragen mit der Bitte, sie in Ruhe nachdenken zu lassen. Gleichzeitig nahm ich fremde Gerüche an ihr wahr, die sie damit begründete, dass sie mit den Teilnehmern einer Arbeitsgemeinschaft noch in einer knoblauchgeschwängerten Kneipe gewesen war, um gruppendynamische Prozesse aufzuarbeiten.
    Das Vokabular sc hmeckte mir zwar nicht, aber dass sie sich für die langen Mußestunden ohne mich eine Beschäftigung gesucht hatte, war schließlich nicht zu beanstanden. Ja, ich war froh, nicht mehr ihr einziger Lebensmittelpunkt zu sein, denn diese Rolle war von einem durchschnittlichen Mann mit anstrengendem Berufsleben kaum auszufüllen. Nachts beanspruchte sie mehr Ruhe, gab mir aber immer noch mehr, als ich brauchte, ja, als ich auf Dauer verkraften konnte.
    Aber sie war irgendwie nicht mehr ganz da, und ich ertappte mich dabei, dass ich einerseits eifersüchtig zu werden begann, mich andererseits nach dem Ende dieser anstrengenden Kameradschaft sehnte. Gefühle und Aktivitäten wurden mir

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