Variationen zu Emily
letzte Eiszeit. Kein anderer Mitarbeiter, mit dem man über das aktuelle Geschehen in Redaktion, Stadt oder Land hätte reden, kein anderer Bekannter, mit dem man Erlebnisse aus der Vergangenheit oder Optionen für die Zukunft hätte diskutieren können. Nur einen blonden Lichtblick gab es auf diesem Fest der Gemächlichkeit. Eben Frauke. Eine Studentin noch, Mitte zwanzig, mit ähnlich markanten Gesichtszügen wie die Schwester, aber ins Weibliche abgemildert. Große Augen, ein sinnlicher Mund, süßer, weicher Flaum auf den Wangen, schlank, kühle Mimik – eine Catherine Deneuve von der Elbemündung.
Sie war ausgelassen und ein wenig frech an diesem Abend, und es machte mir Freude, sie während der lähmenden Gesprächsbeiträge meiner Umgebung zu betrachten: wie sie mit geröteten Wangen herumwirbelte, mit jedem flirtete und sich dabei offensichtlich nie festlegte. Mit zunehmender Trunkenheit begann ich dann, mich mal wieder in Brüste zu vergaffen – offensichtlich bei mir ein Zeichen, dass ich mich langweile. Scheint eine Krankheit zu sein. Immer, wenn absolut nichts los ist, suche ich nach einem weiblichen Torso, der meine Gedanken in eine angenehme Richtung lotst. Dann kann ich stundenlang bei einem Empfang herumstehen und mich auf die Bewegungen, die Verformungen, die Schwingungen konzentrieren. Wundervoll, manchmal. Stunden fliegen vorbei, als wenn die Zeit sich aus ihrer Verankerung gerissen hätte und haltlos den Styx herunterrauscht.
Egal. So ein Phänomen kennst du sicherlich. Bei einem der naturgemäß häufiger werdenden Toilettenbesuche traf ich dann zufällig auf sie. Sie wartete vor der Tür und trat buchstäblich von einem Bein auf das andere. Sie war dabei so sü ß, dass ich aus meiner ein wenig desolaten Stimmung heraus sagte: Wenn dieses Tänzeln der Prolog ist, dann würde ich gern das Stück selbst sehen. Sie lief rot an, schnappte kurz nach Luft – und verschwand in der glücklicherweise eben freigewordenen Kabine. Nach ihr war ich dran. Sie schoss an mir vorbei, und ich schnupperte in dem Räumchen nach ihrem Duft. Aber da war nur das künstliche Aroma von atemberaubenden Fichtennadelessenzen in Sprayform und von diesen automatisch wirkenden, neonbunten Geruchsübertünchern im Spülkasten.
Als ich erleichtert zurückkam, stand sie an dem Tisch, auf dem das Buffet bereitgestellt worden war. Ein Chaos von verklebten Tellern, schmierigen Gläsern, Schüsseln mit unansehnlichen Resten von Salaten, Platten mit langsam eintrocknenden Fisch- und Fleischspeisen. Sie stand da, als würde sie auf etwas warten, ein wenig verwirrt und unentschlossen. Sie wirkte so jung und im Vergleich mit ihren Stammes genossen so wenig bedächtig, dass ich fast Skrupel bekam. Aber ich sprach sie dann doch an, entschuldigte mich für meine Äußerung und gestand, dass sie für mich der Lichtblick dieses dunklen Abends sei. Sie sei so frisch, so fröhlich und so hübsch. Wieder errötete sie, blickte mich mit ihren großen Augen an und lachte dann plötzlich hell auf. Wie mir ihre Schwester gefiele, fragte sie listig.
Es war ein Eiertanz. Was eigentlich ist ein Eiertanz? Nun, ich konnte kaum ihre Schwester schlechtmachen, ohne sie selbst in ihrem Familienstolz zu kränken. Aber ich konnte auch nicht allzu unehrlich sein. Ich wollte schließlich sie, nicht die Schwester. Also erzählte ich, da am Tisch stehend, als pars pro toto von der langweiligen Arbeit in der Redaktion, von der ständigen Müdigkeit und dem grauen Alltag, der auf alles abfärbte, was damit zusammenhing: au ch auf die Personen. Und dass sie mir dagegen vorkam wie ein Sonnenstrahl, der durch einen Spalt zwischen den Gardinen plötzlich Licht und Glanz in ein düsteres Zimmer schickt. Ein wenig kitschig, ich weiß. Aber sie lachte nur. Ich habe schon gehört, dass du Frauen gerne magst, sagte sie. Woher sie, die gerade angekommene Fremde, das nur hatte? Keine Ahnung.
Ich mochte ihr kühl wirkendes, sehr beherrschtes Äußeres, hinter dem sich – da war ich mir sicher – einiges an Emotionen verbarg. Na, ich will dich nicht langweilen. Noch ein Bier? Ach, du rauchst jetzt doch wieder. Bravo! Nicht, weil ich dir den Lungenkrebs wünsche. Sondern weil du zu dir selbst zurückzufinden scheinst. Schon sonderbar, oder? Du kaufst dir ein an fast jeder Straßenecke erhältliches und demnach offensichtlich offiziell akzeptiertes Industrieprodukt, dessen Verkauf unter anderem die Diäten der Parlamentarier finanziert, und es entpuppt sich als der
Weitere Kostenlose Bücher