Variationen zu Emily
in der Zeit, in der die Begriffe Anarchie, Sozialismus und Kommunismus einen magischen Zauber ausübten. Seltsamerweise assoziieren die meisten der heute lebenden Menschen damit nur noch Armut, Diktatur, Mangelwirtschaft, Trabant und Plattenbauten. Erstaunlich immerhin, dass es für das Zeug immer noch Käufer zu geben scheint.
Ja, ich höre auf. Ich weiß, dass du anders wählst als ich. Und ich will dir nicht zu nahe treten. Ich ärgere mich über ganz andere Sachen und rege mich dann über solche Banalitäten auf. Tut mir leid. Lass uns von anderem sprechen. Was machst du sonst so? Kino? Oh ja, die mag ich auch. Gibt es von ihnen einen neuen Film? Und? Ist er gut? Natürlich. So ähnlich wie Fargo? Ganz anders, weniger schwarz? Würde ich auch gern sehen. Aber allein ins Kino? Macht mir einfach keinen Spaß. Niemand, der mitleidet und mitlebt und anschließend darüber reden möchte.
Ich war ja mal mit Tina zusammen. Nein, hast du nicht kennengelernt. Das war eine ganz zurückgezogene Beziehung. Gab auch einen Grund dafür. Sie hatte zwei kleinere Kinder und einen Hund. Wie das manchmal passiert: Ich lernte sie kennen, als sie sich ausnahmsweise familienfrei genommen hatte. Ihre Eltern passten auf, glaube ich. Es war Silvester, und ich zog herum auf der Suche nach einer Gesellschaft, die mir gefiel. In der alten Stadthalle fand ich, was ich suchte: Anonymität und eine ausgelassene Menschenmenge, die sich von der ohrenbetäubenden Popmusik durchquirlen ließ. Ich drängte mich durch tanzende Gruppen bis zur Bar durch, brüllte einem der Mädchen dort eine Bestellung ins Ohr und wandte mich dem Chaos zu.
Es war faszinierend. So viele aus der Ferne attraktiv wirkende Frauen, so viele Männer, die sich erfolglos bemühten, dem Takt zu folgen. Eine Szene aus einem Feministinnenfilm. Ich klammerte mich an die Bar, genoss den Anblick und überließ mich dem Gefühl, einer von vielen zu sein. Da rempelte mich eine Frau an, der große Schweißperlen auf der Stirn standen, so dass mir mein Glas aus der Hand fiel. Es zerschellte geräuschlos auf dem Boden. Ich muss ziemlich blöd ausgesehen haben, denn sie lachte, zeigte der Bedienung zwei Finger und wurde wieder von der Menge verschluckt. Eine sehr süße Frau, ein schönes, offenes Lachen. Ich bewachte die zwei Drinks wie ein abgerichteter Dobermann, setzte meine Ellbogen ein und bewahrte mir damit eine kleine Enklave in dem Tumult.
Plötzlich war sie wieder da, heftig atmend, ihr modisches, enganliegendes Top nassgeschwitzt. Sie nahm ihr Glas, hielt es mir entgegen und stieß mit mir an. Geil, oder, sagte sie mir ins Ohr. Sie trank aus: Komm! Sie zog mich in die Mitte dieser riesigen Orgie und bewegte sich auf eine Weise nach der Musik, dass mir schwindelig wurde. Ich bin kein Freund von Menschenmengen, und ich mag auch eigentlich diese Art von Musik nicht, die wie ein nasser Lappen die Ohren verstopft. Ich bleibe normalerweise gerne draußen und schaue zu. Aber diese Frau mit dem angeklebten Oberteil, das die Umrisse der Brüste genauestens abzeichnete, animierte mich zu Verrenkungen, die ich mir heute gerne mal auf Video anschauen würde. Ich würde mich wahrscheinlich furchtbar schämen oder furchtbar lachen müssen. Aber damals kam ich mir vor wie John Travolta, und sie feuerte mich mit ihren wilden, harmonischen Bewegungen an, aus mir herauszugehen.
Wir landeten schließlich wieder an der Bar. Verschwitzt, atemlos, voller Adrenalin. Wer bist du, fragte ich. Oh, ich bin nur Tina, sagte sie. Komm, wir trinken noch e in Glas, dann muss ich gehen. Wir tranken, und ich versuchte, inmitten dieses Höllenlärms wenigstens das Notwendigste aus ihr herauszubekommen. Sie war mäßig interessiert. Wozu musst du das wissen, schrie sie mir ins Ohr. Weil ich dich wiedersehen will, brüllte ich zurück. Ach wo, lachte sie, schau nur, hier gibt es so viele andere. Aber ich will mehr als deinen Schweiß auf meinen Händen. Da stutzte sie, strich sich die Nässe von der Stirn und betupfte mit ihrer Hand mein Gesicht. So, fragte sie. Nein, noch mehr, antwortete ich und dachte an eine Szene mit Eastwood, in der er einer Frau sagt: Ich möchte den Schweiß von Ihrem Körper lecken. Sie nahm einen herrenlosen Stift von der Theke. Sie fragte: deine Telefonnummer? Ich sagte sie ihr dreimal, da die Ziffern im Gerumpel der Bässe ihre Kontur verloren. Gut, ich rufe dich an. Dann war sie verschwunden. Ich war mittlerweile ohnehin betrunken genug. Silvester war vorbei - so ließ ich mich
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