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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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Ich finde, sie schmecken inzwischen wie diese hellen Amerikanischen mit abgebrochenem Filter.
    Sie rief dann wirklich am Mittwoch an. Wahrscheinlich hatte sie eine Wiedervorlagemappe. Ich holte sie ab, und wir gingen wieder in den Schwan. Sie erzählte von ihrer Reise, von ihren Erlebnissen in Frankreich, von ihren Kindern. Plötzlich sagte sie: Stop, Tina! Komm, lass uns zu dir gehen. Ich habe heute nacht Ausgang. Wir können doch bei dir auch noch plaudern, oder? Klar, sagte ich und dachte: Also erinnert sie sich noch daran, dass auch ich mal zum Zug kommen soll. Ich zahlte, und wir gingen Arm in Arm zu mir.
    Es war ein schöner Spaziergang. Sie fragte zwar nichts, schwieg aber viel, als wir durch die dunkle, verlassene Stadt schlenderten. Es war wie gemeinsames Erleben, wie ein Wahrnehmen, das durch unsere verschlungenen Hände für den anderen sichtbar wurde. Bei mir angekommen, holte ich uns aus dem Kühlschrank in der Küche etwas zu trinken. Als ich zurückkehrte, war sie schon ausgezogen. Ihre Kleidung lag sorgfältig gefaltet über der Sofalehne. Lass uns ins Bett gehen, da ist es gemütlicher, sagte sie und ging völlig unbefangen nackt vor mir her in das Schlafzimmer. Ein Traummädchen! Ich stellte Aschenbecher und Zigaretten, Gläser und Flaschen auf den Tisch neben dem Bett, und während sie es sich zwischen Kopfkissen und Bettdecke gemütlich machte, zog ich mich ein wenig geniert aus, obwohl sie interessiert die Bücherstapel auf dem Boden inspizierte, und ging noch einmal ins Bad.
    Als ich zurückkam, lag sie entspannt rauchend auf dem Rücken und schaute den Nebeln nach, die ihr aus Mund und Nase drangen. Ich legte mich neben sie, deckte mich schamhaft zu und fasste nach ihrer freien Hand. Ein wenig später, nachdem sie ihre Zigarette gelöscht hatte, ließ ich meine Finger ein wenig wandern. Da sagte sie: Weißt du, ich habe gar kein Lust. Lass mich einfach an deiner Schulter einschlafen. Oder macht es dir etwas aus? Und ob es mir etwas ausmachte! Ich hätte sie vergewaltigen können! Aber ungeachtet der schmerzenden Erektion und der muskelzerrüttenden Erregung ließ ich sie ihren süßen Kopf mit den kurzen blonden Haaren – sie trug die Haare sehr kurz: die einzig mögliche Frisur bei so einem wundervollen Gesicht – an meine Schulter betten. Und sie schlief einfach ein! Das gab mir trotz meiner aktivierten Triebe ein so starkes Gefühl von Fürsorge ein, dass ich einfach nur glücklich war. Da vertraute sich mir ein Traumwesen einfach so an! Oh, wie ich sie liebte! Natürlich schlief ich kaum.
    Am Morgen war sie im Gegensatz zu mir sehr munter, sprang aus dem Bett, duschte und frühstückte mit mir. Du bist sehr lieb, sagte sie zum Abschied. So gut habe ich lange nic ht geschlafen. Auf bald. Sie küsste mich auf den Mund und ging. Also, eines würde ich noch trinken. Machst du mit? Ich bin auch gleich fertig mit der Geschichte. Karl! Zwei. Danke. Also: Wir trafen uns noch drei- oder viermal. Immer war sie es, die den Kontakt herstellte – wenn sie Zeit hatte. Und das war selten. Sie war eine von diesen Müttern, die ihre Kinder ständig in der Gegend herumfahren. Dann war Sebastian krank. Dann musste Sabine zum Chor gebracht werden. Dann hatte sie niemanden für den Hund. Dann war sie irgendwo in Deutschland oder in der Schweiz mit Freunden verabredet. Dann hatte die Schwiegermutter Geburtstag. Und so weiter.
    Sie war entzückend. Sie war wie gemacht für die Liebe. Sie sah gut aus, roch gut, hatte eine schöne Stimme, lachte anziehend, war intelligent und lieb und einnehmend arglos, ohne naiv zu sein. Eine Traumfrau, wie sie im Buche steht. Und doch war irge ndetwas falsch mit ihr. Ohne dass sie es wusste. Sie schloss von sich auf den Rest der Menschheit. Und wenn sie in Büchern oder in Filmen anderen, wirklichkeitsnäheren Charakteren begegnete, schrieb sie das den absonderlichen Notwendigkeiten des jeweiligen Mediums zu. Wie gesagt: Wir trafen uns noch ein paarmal. Aber es änderte sich nichts. Ich kam nicht an sie heran. Es gab noch eine gemeinsame Nacht. Ihr Körper öffnete sich keinen Spalt. Mein Streicheln, meine hingetupften Küsse bewirkten nichts. Sie schien meine Erregung gar nicht wahrzunehmen.
    Ich bin sicher: Sie hätte ihren Ex-Mann im letzten Stadium der Lepra hingebungsvoll ge pflegt – ohne Ekel oder Überdruss. Das war Bestandteil ihres Vertrags. Aber die Lust an sich selbst oder am anderen Körper war ihr unverständlich – es gab so etwas, aber nur in der Jugend und

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