Varus - Historischer Roman
»Meine Füße tun weh, meine Beine auch, und mir ist kalt.«
»Deine Mutter würde weinen, wenn du nicht mit uns kämst.«
»Dann bleibt sie eben auch hier!«
»Nein, mein Augenstern«, mischte sich Amra ein, »ich bleibe nicht hier, und du auch nicht. Steh auf, reinige dich und dann lass uns beten.«
»Beten!« Kaum hörbar wiederholte Sura das letzte Wort ihrer Mutter und so abfällig, dass Amra ihr eine klatschende Ohrfeige verpasste. Das Mädchen hielt sich die Wange und brach in Tränen aus. »Ich will zu Tata!«
Amras Schultern sanken herab, der Ausdruck der Entschlossenheit in ihrer Miene erlosch. Dass Sura den verschollenen Vater vermisste, war nicht verwunderlich. Es hätte nicht viel gefehlt, und Amra wäre auf dem Weg, den sie gestern zurückgelegt hatten, umgekehrt, um nach ihrem Statilius zu suchen. Nur mühsam hatte Thiudgif sie davon abhalten können, allein die Bitte, ihre Tochter zu retten, hatte die Mutter umgestimmt. Den Verlust der Magd hatte sie hingenommen, den ihres Mannesertrug sie nicht. In der Nacht hatte sie lautlos geweint, während Thiudgif sie in den Armen hielt, weil ihr auch nichts Besseres eingefallen war, um die Unglückliche zu trösten.
Langsam stand Thiudgif auf und begab sich zu der Ältesten in ihrer kleinen Schar, einer lauten, gemeinen Frau namens Fausta, die Amra und Sura unter dem Gelächter der anderen mit derben Zoten bedachte.
»Schweinefraß!«, blaffte Fausta und schleuderte das große Blatt mit dem gesüßten Mus von sich.
»Du musst es ja nicht essen«, entgegnete Thiudgif spitz. »Sicher wirst du auf unserem Weg genügend Garküchen finden, wo du speisen kannst.«
»Blöde Gans! Wo hast du uns überhaupt hingeführt? Mitten in die Wildnis! Was sollen wir hier? Ist das etwa besser als das, wo wir herkommen?« Und als Thiudgif nicht sofort antwortete, überschüttete sie sie mit einem Schwall von Beschimpfungen, denen nicht erst am Gekicher der anderen Weiber anzumerken war, wie unflätig sie waren. Thiudgif spürte, wie der Zorn ihr das Blut in die Wangen trieb. Ohne zu zögern, schlug sie der keifenden Frau ins Gesicht und weidete sich an deren bestürzter Miene.
»Geht allein, wenn meine Führung euch nicht passt!«, blaffte sie, wirbelte herum und stampfte davon.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie das anerkennende Lächeln der beiden Freigelassenen. Sie hatten sich aus langen, geraden Ästen Wurfspieße geschnitten, die sie nun zuspitzten. Sie würden mit ihr, Amra und Sura gehen, und die schlechten Weiber sollten zusehen, wie sie sich behülfen. Sie kehrte zu Mutter und Tochter zurück, die ihre Gebete inzwischen verrichtet hatten und mit Mund und Fingern Mus von den Blättern aßen. Während Amra nicht anzumerken war, was sie von dem kleinen Streit hielt, funkelte in Suras Augen helle Freude.
Weil Gras und Moos taufeucht waren, ließ Thiudgif sich neben den beiden Frauen auf einer Wurzel nieder. Ihre Mahlzeit war inzwischen kalt geworden, aber das störte sie nicht weiter. Sie blinzelte zum Himmelsblau auf, das zwischen den Wolken hervorleuchtete, um herauszufinden, wo genau sich die Sonne befand. Es war noch früh, sie waren über die ersten Hügel gekommen, lagerten auf einer Lichtung, die vor einiger Zeit beweidet worden war, wie sie aus dem Wuchs der Bäume und Sträucher geschlossen hatte. In den Beerensträuchern hatte sie Flocken von Schaffell entdeckt. Auch die Suche nach Reisig für das Feuer hatte sich als schwierig erwiesen, weil im umgebenden Wald kaum totes Holz lag; es bestand kein Zweifel daran, dass ein Dorf in der Nähe lag, dessen Bewohner sich hier versorgten. Sie würden auf Spuren achten müssen, auf Pfade.
Thiudgif musterte der Reihe nach die Frauen und die beiden Freigelassenen, die die Spitzen ihrer Speere im Feuer härteten. Niemand von ihnen würde in dieser Wildnis überleben, niemand außer ihr, Thiudgif, Tochter des Sahsmers, die solche Wälder seit Kindesbeinen kannte, wusste, welche Pflanzen essbar und welche giftig waren, wie man Niederwild fing, Schwarzkitteln und Raubzeug aus dem Weg ging,
welches Tier welche Spuren hinterließ. Sie glaubte zu fühlen, wie das Blut warm durch ihre Adern strömte, reckte sich ein wenig und lächelte. Selbst das fade Mus mit den säuerlichen Beeren schmeckte ihr. Annius wäre stolz auf sie.
Bitterkeit schlich sich in ihr Herz, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie krampfte die Rechte um die Wachstafeln, die sie sich fest an den Leib gebunden hatte, würgte den Rest ihrer Grütze
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