Varus - Historischer Roman
würde vor Tagesanbruch sterben. Sie alle würden sterben. Jemand stieß ihn an, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.
»Was geschieht mit dem Toten? Wird er bestattet?«
Annius schüttelte wortlos den Kopf.
»Und wenn Feinde ins Lager eindringen und die Leiche finden …?« Der Soldat schluckte sichtlich. »Oder hält jemand Wache?«
Annius antwortete nicht, er zog nur schweigend die Schultern hoch. Hinter ihnen gerieten die Männer in Bewegung, und eine befehlsgewohnte Stimme bellte über ihre Köpfe hinweg.
»Der dreckige Hund hat erreicht, was er will!« Es war Ceionius, der sich einen Weg durch die Reihen der Soldaten bahnte. »Wir haben die Schlacht verloren, der Statthalter ist tot, und uns bleibt nichts mehr, als den Rest des Heeres hier herauszuholen. Ich werde jetzt hinausgehen und mit den Barbaren über freien Abzug verhandeln.«
»Was sollen wir ihnen denn bieten?«, rief der Centurio, der ihn begleitete. »Die lassen uns doch unters Joch gehen!«
»Wir haben noch die Soldkasse und einige wertvolle Gegenstände aus dem Besitz des Statthalters und anderer hoher Offiziere«, erwiderte Ceionius, just als er sich an Sabinus und Annius vorbeidrängte. »Die Barbaren werden diese Beute sicherlich lieber kampflos erringen wollen.«
Die verbliebenen Bogenschützen, keine hundert mehr, schoben sich hinter ihm durch die Menge. Als der Lagerpraefect vor den Soldaten stand, musterte er sie scharf und hob gebieterisch die Hände.
»Die drei vorderen Reihen auf den Wall!«, befahl er. »Ihr gebt den Bogenschützen Deckung.«
Annius hörte nicht mehr, welchen Befehl Ceionius den übrigen Soldaten gab, er erklomm bereits neben Sabinus den Wall. Aber ein Blick zurück zeigte ihm, dass die anderen sich hinter dem Tor aufstellten, eine gestaffelte Schlachtreihe, die keine großen Barbarenhorden abwehren könnte. Oben auf dem Wall stellten die Soldaten sich zu einer Schildmauer auf, dahinter knieten die Bogenschützen.
Als Annius über den Rand des Schildes spähte, verschlug es ihm den Atem. Auf den niedergetrampelten Wiesen lagen zahllose, wie zufällig verstreute, dunkle Bündel, zwischen denen Krieger mit Fackeln umhergingen, hier und da stehen blieben, etwas aufsammelten. Wie eine finstere Masse zeigte sich in der Ferne ein feindlicher Heeresteil, umfunkelt von flackernden Lichtern. Fröstelnd drehte er sich um und sah Sabinus in gebanntem Entsetzen in die Nacht hinausstarren.
Unten machte Ceionius sich mit zwei Centurionen und weiteren Gefreiten bereit hinauszugehen. Er hatte sich einen Lanzenschaft, der mit schmutzig weißen Bändern umwickelt war, und seinen Stab, das Abzeichen seiner Befehlsgewalt, über den Arm gelegt. So durchschritt er mit seinem
kleinen Gefolge die Lücke im Wall, die den Zugang zum Lager bildete.
Eine Reiterschar löste sich aus der Masse der Feinde und näherte sich im verhaltenen Trab. Annius glaubte, den Mann an ihrer Spitze zu erkennen, den Anführer der Meuterer und Aufständischen, bei dessen Anblick ihm das Herz bis zum Halse schlug und er unwillkürlich nach dem Heft seines Schwertes tastete. Die Männer näherten sich auf etwa fünfzig Fuß, sie begrüßten einander, doch ihre Worte verwehte der Wind. Währenddessen stellten sich die Reiter in einem weiten Bogen vor Ceionius und seinen Begleitern auf, nur ihr Anführer hatte sich aus der Gruppe gelöst und den Römern genähert. Er lachte hellauf, ließ sein Pferd einige Schritte rückwärts machen, hob die Arme in einer hilflos anmutenden Geste und schüttelte den Kopf.
Im nächsten Augenblick kam Bewegung in die Reiter, und eine Salve von Wurfspießen ging auf die Abgesandten nieder, ungeachtet des mit weißen Bändern umwickelten Stabes. Ein Schrei flog über den Wall, aber ehe die Bogenschützen ihre Pfeile abschossen, hatten die Barbaren weitere Spieße abgefeuert. Die Menge in der Ferne erhob ihr dumpf grollendes Gebrüll und wälzte sich auf den Wall zu, eine bedrohliche Woge, an deren Spitze sich die Reiter setzten, allen voran ihr Anführer, der mit erhobenem Schwert über Ceionius und die anderen hinwegritt.
Annius stockte der Atem, und der Schrecken über diesen schier unfassbaren Frevel schien wie Brandung über den Wall hinwegzurasen. Diesmal überwand die schiere Masse der Angreifer den Graben, ungeachtet des dornigen Astwerks, das ihr Vorrücken behinderte. Auf allen vieren erklommen sie den auf der Außenseite steileren Wall, während viele Soldaten noch mit dem Schock über den ruchlosen Mord an
den
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