Varus - Historischer Roman
die hereingebrochene Nacht.
Die Dunkelheit umfing Annius mit Kälte, Brandgeruch, Rauch. Überall loderten kleine und große Feuer, Männer rannten durch das Lager, einzeln und in Gruppen, manche trugen Fackeln, und an den Zugängen wogten lärmende Mengen. Auf den Wällen reihten sich Soldaten, um die
andrängenden Barbaren abzuwehren. Centurionen und Unteroffiziere versuchten brüllend Ordnung zu schaffen, doch zu viele Soldaten irrten auf der Suche nach Kameraden führungslos herum.
Der Statthalter war tot, vielleicht hatten es ihm einige andere Stabsoffiziere gleichgetan. Hier draußen, inmitten von Auflösung und Verwirrung mutete Varus’ Tod unversehens wie feige Flucht vor einem schändlichen Ende an, das er den ihm anvertrauten Soldaten damit keineswegs ersparte. Die Leere, die Annius empfunden hatte, füllte sich mit Verzweiflung und Zorn. Mit geballten Fäusten eilte er hinkend die Lagerstraße hinunter, spähte in der Dunkelheit nach den Hauptleuten. Die Stimmen der Soldaten übertönten das Krachen von Holz und Klirren der Waffen, da sie, in dem Bemühen, gehört zu werden, lauter und lauter schrien.
Annius drängte sich unter die lärmenden Männer, wurde mitgeschoben, bis er fast keine Luft mehr bekam. Endlich erblickte er einen Centurio, der die Versprengten um sich scharte, lenkte und mit heiser gebrüllter Stimme anfeuerte. Sie hatten die Feinde offenbar noch einmal zurückschlagen können. Annius bahnte sich einen Weg durch die Soldaten, bis ihn einer abrupt anblaffte, er solle sich an seinen Platz scheren und die Stellung halten. Als Annius auf den Centurio deutete, versetzte ihm der Soldat einen Stoß, dass er zurücktaumelte und gegen einen Mann prallte, der zuerst stutzte, dann den Schild fallen ließ und ihn umarmte.
»Ich glaub’s nicht!«, tönte Sabinus’ Stimme. »Du lebst!«
Eine Welle der Erleichterung überflutete Annius, er konnte kaum fassen, dass der Mann, der vor ihm stand, ihn an den Schultern gepackt hatte und lachend schüttelte, tatsächlich Sabinus war, sein Kamerad, mit dem er über Monate eine Stube und auf dem Marsch ein Zelt geteilt hatte.
»Was machst du hier ohne Helm und Schild? So kannst du nicht mit uns kämpfen.« Schief grinsend tippte Sabinus gegen den Stirnschutz seines Helms. »Geh zu den Verwundeten, da kannst du dich eindecken.«
Sein Nebenmann lehnte sich herüber. »Ihr seid Freunde, nicht wahr?« Als sie verdutzt nickten, stellte er den Schild ab und löste seinen Helm. »Du kannst mein Zeug haben, ich besorge mir was Neues. Ist ohnehin schon mein zweiter Satz, und Freunde sollten im Kampf beieinanderstehen.«
»Warte!« Annius hob abwehrend die Hand, aber der Mann winkte ab, reichte ihm nacheinander Helm und Schal und schob ihm den Schild zu. »Mach mir keine Schande! Der Helm gehörte meinem besten Freund«, rief er über den Lärm hinweg, ehe er durch die Menge davonging.
Zögernd wickelte Annius die feuchte, muffige Wolle um den Hals, zog dann den Helm über den Kopf, der ihm ein wenig zu klein war und an den Schläfen drückte. Der fremde Schweiß stieg ihm bitter in die Nase. Fieberhaft rang er nach Worten, wie er den Männern ringsum begreiflich machen könnte, dass ihr Treiben sinnlos war, dass sie für niemanden mehr kämpften außer für sich selbst. Mit dem Schild in der Linken nahm er den Platz neben Sabinus ein.
»Für diesmal haben wir die Kerle wieder hinausgeworfen, aber lange können wir die Stellung nicht halten.« Sabinus rempelte Annius an. »Bin froh, dass du da bist!«
»Varus ist tot«, stieß Annius hervor.
»Tot?«
»Er hat sich getötet, um nicht lebend in die Hand der Feinde zu fallen und -«
»Du lügst doch«, rief Sabinus, während die Nachricht von Mund zu Mund flog, sich ausbreitete wie eine lähmende Welle. Annius erkannte, dass er den Stein ins Wasser geworfen
hatte und nicht mehr aufhalten konnte, was jetzt geschah.
»Und die anderen? Die anderen Stabsoffiziere?«, stammelte Sabinus, der sichtlich um Fassung rang.
»Du meinst die, die noch übrig sind?«, entgegnete Annius bitter und zuckte die Achseln.
Angestrengt richtete er den Blick nach vorn; die Lähmung, die die Männer ringsum befiel, verursachte ihm eine Gänsehaut. Varus’ Tod, der Anblick seiner schutzlosen Leiche hatte ihn jeder Hoffnung beraubt - und genau das tue er jetzt seinen Kameraden an, schrie etwas in ihm. Etwas, das machtlos war gegenüber der Verzweiflung, die ihn einholte. Sabinus mochte bis jetzt überlebt haben, aber er
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