Varus - Historischer Roman
bewegen. Obwohl ihr der Gedanke an das Versprechen Unbehagen verursachte, erhob sie keinen Einspruch, als Amra und Sura gleich hinter ihr gingen und dann erst die beiden Freigelassenen und die kleine Schar der Frauen folgten.
Sie durchwanderten die Ebene, stießen schließlich auf abgeerntete Äcker, was Thiudgifs Wachsamkeit noch schärfte. Eine der Frauen hatte ihr mitteilen lassen, dass sie keinen Schritt weitergehen würden, wenn sie befürchten müssten, entdeckt zu werden. Thiudgif vertraute auf den Schutz der Hecken und Apfelbäume an den Feldrainen und folgte den Pfaden zwischen den Feldern. Nachdem sie eine Senke durchschritten hatten, erblickte Thiudgif auf dem Kamm eines langgestreckten Hügels, hinter den Überresten einer niedergerissenen Palisade, die geduckten Dächer eines Dorfes. Sie erstarrte, winkte den anderen, stehen zu bleiben, dann spähte sie über die Hecke hinweg, die sie schützte. Da war kein einziger Rauchfaden. Thiaminus schlich näher und kauerte sich neben sie. Ihr verärgertes Stirnrunzeln schien ihn nicht zu stören.
»Ein Dorf?«, flüsterte er, und als sie nickte, setzte er nach: »Bedeutet das Gefahr?«
»Keine Sorge, das Dorf scheint verlassen«, erwiderte sie. »Wahrscheinlich waren die Aufständischen hier.«
»Du denkst …?«
»Dass Arminius’ Leute sich Vieh und Getreide und die waffenfähigen Männer geholt haben - wundert dich das?« Unter hochgezogenen Brauen musterte sie Thiaminus, der leicht errötete. Eigentlich war er ein hübscher Bursche mit Augen von der Farbe reifer Haselnüsse, weichen Zügen, umrahmt von dunkelbraunen Locken, einer, in den ein Mädchen sich leicht verlieben konnte. Ohne den Blick von ihm abzuwenden,
tastete sie nach den Wachstafeln an ihrem Leib. Sie wusste ja nicht, was mit Annius war, sie war einfach weggelaufen. Sie musste den Weg nach Hause finden, wo ihr Vater sicher auf sie wartete. Sie durfte sich nicht anrühren lassen, auch nicht im Herzen.
»Was ist los?«, schnarrte Faustas Stimme hinter ihnen. »Was schäkert ihr da herum, wo ihr doch sonst so scham-«
Ihre raue Stimme erstarb, und sie starrte über die Hecke hinweg, ließ die schlechten Zähne sehen. Es dauerte eine Weile, ehe sie die Lippen schloss, die Zunge darüberschnellen ließ. »Was machen wir jetzt?«
»Weitergehen«, entgegnete Thiudgif trocken. »Das Dorf ist verlassen, auf den Äckern droht uns keine Gefahr.«
Rasch erhob sie sich und setzte ihren Weg fort, achtsam den Pfützen und Schlammkuhlen ausweichend. Sie mussten vorsichtig sein und sich zwischen den Hecken zum Waldrand schleichen - nicht aus dem Dorf drohte ihnen Gefahr, sondern aus dem Wald vor ihnen. Dorthin, davon war Thiudgif überzeugt, hatten sich die Dörfler geflüchtet.
XIII
Benommen blinzelte Caldus. Ein scharfer Ruck hatte ihn aus der trügerischen Zuflucht gerissen, mit der die Erschöpfung ihn umhüllt hatte. Ein paar halbwüchsige Jungen standen feixend vor ihm. Einer legte einen Finger an die Nase und rotzte auf den Boden, dann lachten sie. Caldus hatte Neffen, die so alt waren wie diese Jungen. Er spürte, dass ein Speichelfaden von seinen Lippen troff, aber es drang nicht wirklich zu ihm durch. Ein kalter Luftzug fuhr durch das dünne Hemd, das sie ihm als letztes Kleidungsstück gelassen hatten, und ließ ihn frösteln. Eiserne Ringe waren um seine Handgelenke gelegt worden. Die Ketten daran waren an Ästen hoch über seinem Kopf befestigt, die Füße an tief in den Boden gehämmerte Pflöcke gekettet. Mit ausgebreiteten Armen schaukelte er in diesen Fesseln, die Knie brachen ihm weg, wenn ein Gott wie Morpheus seinen Geist gnädig entrückte; aber schon bald weckte ihn wieder der rei ßende Schmerz in Handgelenken und Schultern. Die klebrigen, warmen Spuren auf seinen Armen waren Blut, das unter den Eisenringen hervorquoll.
Die Wilden taten ihm nichts weiter, ebenso wenig wie den übrigen Stabsoffizieren und Centurionen, die man hierhergeschleppt und auf die gleiche Weise gefesselt hatte. Caldus erkannte den Primipilus der Siebzehnten, Quintus Sertorius,
der mit einem Verband um den Kopf in den Ketten hing, und mehrere ritterliche Tribune, einige junge Volontarier aus besten Familien. Ein paar Barbaren hielten Wache, schirmten die Gefangenen von den anderen ab, die ihren Sieg feierten. Obwohl hierher nur der Lärm drang und das Flackern der Freudenfeuer zwischen den Bäumen hindurchblitzte, glaubte Caldus, einen solchen Taumel in seinem ganzen, allzu kurzen Leben noch nicht erlebt
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