Varus - Historischer Roman
weich wurden und sie einfach hinsank, die Hände vors Gesicht schlug und von Schluchzen geschüttelt weinte. Sie hörte das Rasseln eines Kettenhemdes, dann schwere Schritte, der herbe Geruch eines Mannes umwehte sie, und eine große, warme Hand umschloss ihre Schulter.
»Es ist alles ein bisschen viel, nicht wahr, Mädchen?« Caedicius’ Stimme klang überraschend tröstlich. »Wir sind hier auch nicht in Sicherheit. Ich hab mir zwar mal ein paar von den Burschen da draußen geschnappt und denen unsere Vorräte gezeigt, damit sie wissen, dass sie sich auf eine längere Belagerung gefasst machen müssen. Aber ich fürchte, die bekommen jetzt Nachschub, nachdem sie Varus’ Legionen in alle Winde zerstreut haben.«
Er tätschelte sacht ihren Rücken, während sie ruhiger wurde, schniefte und sich mit dem Tuch, das er ihr hinhielt, die Tränen trocknete und die Nase putzte. Das weiße Brötchen, das er ihr anbot, riss sie ihm fast aus der Hand und stopfte es in den Mund, kaute kaum, schluckte umso gieriger. Sie setzte sich auf, umklammerte mit beiden Händen den Becher, ließ den stark verdünnten Wein in den Mund rinnen und trank, bis der Becher leer war.
»Die Soldaten, die sich hierher gerettet haben … Ist da auch …« Sie schnäuzte sich nochmals.
»Ich weiß nicht, ob ein Titus Annius unter diesen Männern ist«, erwiderte Caedicius, »aber ich werde danach fragen. Und jetzt soll man sich erst mal um euer Wohl kümmern.«
Unter den Geretteten befand sich kein Titus Annius, aber Thiudgif erfuhr am folgenden Morgen, dass sich einige Bewohner
der umliegenden Dörfer nach Aliso geflüchtet hatten, seitdem die Belagerer begonnen hatten, in der Gegend Vorräte einzuziehen. Das Frühstück in der Hand, eilte sie zu den Unterkünften, von denen die Frau, die das Getreide ausgeteilt hatte, erzählt hatte. Die Flüchtlinge hausten in Zelten am hinteren Ende des Lagers in der Nähe der Latrinen, und beim leisen Klang der heimatlichen Sprache blieb Thiudgif stehen und lauschte. Schließlich kroch ein junger Mann aus einem Zelt, kam auf sie zu.
»Was willst du hier? Wer bist du?«
»Thiudgif, Tochter des Sahsmers«, erwiderte sie. »Sind hier Leute aus dem Dorf bei den fünf Eichen?«
Kurz darauf stand eine bucklige, alte Frau vor ihr, das wei ße Haar zu einem dünnen Knoten aufgebunden, und starrte sie ungläubig an. Kaum erkannte Thiudgif die alte Bäuerin, eine Witwe, deren Hof unweit ihres Vaterhauses stand.
»Wir dachten, du seist verschollen!«, kam es undeutlich aus ihrem zahnlosen Mund. »Dein Vater erhielt Nachricht, dass der Steuereintreiber dich aus dem Haus seines Schwagers verschleppt habe. Seither nichts. Und jetzt bist du hier!«
»Ich war im Heereszug des Statthalters.«
»Den der schneidige Cherusker wohl den gierigen Mächten der Unterwelt geweiht hat.« Die Greisin legte ihre kühlen Hände um Thiudgifs Wangen. »Armes Kind. Dein Vater hat eine Dummheit gemacht und sich den Kriegern widersetzt. Er besaß ja nichts. Sie haben ihn erschlagen, um zu zeigen, was mit denen geschieht, die sich ihnen im Kampf gegen die Römer in den Weg stellen. Auf heimlichen Wegen mussten wir uns durch den Ring der Belagerer schleichen, weil sie uns nach dem Leben trachten. Mächtige kämpfen gegen Mächtige, und wir zahlen den Zoll, ganz gleich an wen.«
Thiudgif war zusammengefahren und presste eine Hand auf die Wachstafeln, die sie noch immer am Leibe trug. Nur langsam begriff sie, dass ihr Vater tot war, dass sie allein war wie zuvor und es bleiben würde. Doch das Leid wurde nicht schwerer, grub sich nicht tiefer in ihre Brust. Ihr war, als böten die dünnen hölzernen Tafeln einen Schutz dagegen; ohne diese Tafeln wäre sie ein Nichts, ein Ding, das sich jeder Dahergelaufene hätte aneignen können. Schließlich war sie nicht imstande, allein den kleinen Hof zu bewirtschaften, würde sich stattdessen jemandem andienen müssen. Die Tafeln hingegen waren bei den Römern ein Beweis ihrer Freiheit, und Annius’ Brief an seine Eltern barg die Verheißung einer Zuflucht. Und sie hegte noch immer die Hoffnung, dass er lebte. Auch wenn er sich nicht unter denen befand, die den Weg nach Aliso gefunden hatten. Er gehörte zu den Tapferen, er würde ausharren, selbst wenn alles verloren war.
Sie ließ die dunkle Ahnung nicht zu, die hinter ihrer Hoffnung lauerte, verabschiedete sich fahrig von den Flüchtlingen, die zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt waren, als dass sie sich weiter um sie gekümmert
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