Varus - Historischer Roman
noch immer viel zu weit entfernt. Auch wenn auf dem Wehrgang einzelne Schatten winkten.
Sie hörte einen spitzen Schrei, eine der Frauen hinkte, kämpfte verzweifelt um ihr Gleichgewicht. Thiudgif ließ Faustas Hand los, tastete nach dem Arm der Verletzten, die sich ihr an den Hals warf. Taumelnd, um nicht zu Fall zu kommen, schob Thiudgif sie neben sich her, bis Thiaminus sie erreichte, ihr half. Hufschlag donnerte heran. Thiudgif legte sich den Arm der Frau um die Schultern und hastete mit ihr weiter, lief um den vorderen Graben herum, während Thiaminus zurückblieb. Sie sah über die Schulter, sah die beiden Freigelassenen hinter Sträuchern Stellung beziehen gegen die heranstürmenden Krieger.
Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte, und jetzt zog die verletzte Frau sie weiter, auf das Tor zu, vor dem sich die wenigen Flüchtlinge drängten. Pfeifend flogen Geschosse vom Wehrgang her über sie hinweg. Sie wandte nochmals den Kopf, sah Privatus, der sich aufgerichtet hatte, um seinen Spieß in die Reiterschar zu schleudern, und getroffen zu Boden stürzte. Ein scharfer Ruck riss sie durch den Spalt zwischen Torflügel und Pfosten, hinein in das rettende Feldlager. Donnernd schlugen beide Torflügel gegen den Mittelpfosten und die steinerne Schwelle.
Wie vom Schlag gerührt stand Thiudgif im Torweg unter dem Wehrgang, während Soldaten die mächtigen Riegel vorschoben. Ihr Herz schlug so hart, dass sie die Hände an die Brust legte, als könne sie es damit bändigen. Thiaminus und Privatus blieben draußen. Sie opferten ihr Leben, um die anderen zu retten; der fortwährende Beschuss der Angreifer durch die Schleuderer auf dem Wehrgang half ihnen nichts mehr. Der gellende Jubel traf sie wie ein Faustschlag, der Atem stockte ihr, die Beine verloren ihre Festigkeit, und als sie die Augen wieder aufschlug, fand sie sich in Amras Armen, zu Tode erschöpft und ohne jede Kraft.
Amra half ihr, dem Tor den Rücken zu kehren, Fuß vor Fuß zu setzen. Sie gingen durch einen zweiten Torweg. Zu beiden Seiten der breiten Straße standen langgestreckte Bauten mit flachen Dächern. Dahinter erstreckte sich eine Mauer wie ein einziges, endloses Gebäude, dessen Eingang ein Stück in die Straße ragte. Überall eilten Gruppen gerüsteter Soldaten mit Speeren und Schilden herum, Knechte schleppten schwere Beutel und wahre Sträuße von Wurfspießen hinter ihnen her. Aber es waren wenige Männer für die gewaltigen Ausmaße des Lagers.
Mit weichen Knien ließ Thiudgif sich von Amra führen. Nach all diesen Tagen auf dem Marsch und der Flucht durch die Wildnis befand sie sich endlich innerhalb der schützenden Mauern eines römischen Standlagers.
Ein Gepanzerter stellte sich ihnen in den Weg. Bevor Thiudgif recht begriff, was er von ihnen wollte, hatte Amra schon einige Sätze mit ihm gewechselt. Er schritt ihnen voraus zu dem Gebäude im Herzen des Lagers, wo er die wachhabenden Soldaten ansprach, die sie hineingehen ließen, ohne eine Miene zu verziehen. Der kurze Gang, den sie betraten, war schattig und so kühl, dass Thiudgif, die sich inzwischen aus Amras Armen befreit hatte, fröstelte. Wie eine stumpfe Verletzung schmerzte der Verlust der Freunde in ihrer Brust.
Auf den Vorbau folgte ein weiter Innenhof, den ein Säulengang umlief; ein überdachter Brunnen nahm eine Ecke ein und vor dem hinteren Gebäudeteil erhob sich eine mächtige Statue, ein Mann in einer prachtvollen römischen Rüstung, der stolz über den Hof hinwegblickte. Im linken Arm einen langen Stab, hielt er die Rechte erhoben wie ein Priester, der ein Opfertier segnete.
»Das ist Caesar Augustus«, flüsterte Amra und presste die
Lippen aufeinander, als missbillige sie Thiudgifs unwillentliches Lächeln.
Sie folgten dem Mann in den Säulengang, durch eine Tür in einen weiteren halbdunklen Flur, an mehreren Türen entlang, bis er stehen blieb und ihnen den Weg in einen Raum wies, der von zwei hohen Kandelabern mit vielen Öllampen erleuchtet wurde. Thiudgif bestaunte die Verschwendung und die vom weichen Licht beleuchteten Säulen und Pfeiler, Girlanden und Kränze an den Wänden, ehe sie begriff, dass es nur Malereien waren. Möbel wie es sie hier gab, kannte sie nur aus Erzählungen: gepolsterte Liegen, belegt mit bunten Kissen und Decken, zierliche hochbeinige Dreifüße, ein breiter Tisch, auf dem sich Holztafeln zwischen Schriftrollen türmten, zwei geschnitzte Stühle dahinter und ein hoher Schrank mit vielen Fächern, die man wohl
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