Varus - Historischer Roman
uns zuerst für Angreifer halten«, brach Amra das Schweigen. »Aber dafür haben wir das weiße Tuch.«
»Privatus und ich werden am Schluss laufen«, sagte Thiaminus schnell, als wollte er nicht, dass ihre Worte bei den anderen Ängste weckten. »Wir können euch schützen, falls die Barbaren uns entdecken und verfolgen sollten. Aber gebt acht auf die beiden Gräben! Die werden sicherlich mit spitzen Hölzern und Dornengestrüpp bewehrt sein. Wenn eine da hineinfällt, ist es aus mit ihr.«
Reihum nickten die Frauen, nur Fausta zog eine finstere Miene. »Da hinüber sollen wir rennen? Das sind fast zwei Stadia, Junge! Eine alte Frau wie ich schafft das nicht.«
»Siehst du eine andere Möglichkeit?«
»Sie könnte kriechen wie eine Schlange«, blaffte Amra, und als Fausta nach Luft schnappte, um ihr eine wütende Erwiderung entgegenzuschleudern, hob Privatus beschwichtigend die Hände.
»Streit hilft uns nicht weiter«, sagte er leise. »Das Gras und die wenigen Büsche und Bäume bieten keinen ausreichenden Schutz. Wir können nur laufen und auf wohlgesinnte Götter und Geister hoffen.«
Fausta drehte sich zu den anderen Frauen um. »Und ihr denkt daran, dass da drinnen ein Haufen Männer hocken, die einen warmen Weiberarsch und geschickte Hände zu schätzen wissen. Jede, die es da hineinschafft, hat ausgesorgt - aber vergesst die alte Fausta nicht, die euch Gänse immer gut gehütet hat.«
Thiudgif sandte ein kurzes Stoßgebet zu den Wesen, die dieses Grasland bewohnen mochten, kriegerische Geister, die ihre Füße flink machen, sie zum Tor tragen sollten. Sie verdrängte die Zweifel, ob diese Geister nicht eher den Belagerern beistünden, hoffte darauf, dass deren Umtriebe die Idisen an diesem Ort erzürnt haben mochten. Neben ihr flehten Amra und Sura auf Knien ihren strengen, namenlosen Gott um seine Gnade an. Ihr Geflüster mischte sich unter das dünne Rauschen des Blattwerks im lauen Nachtwind.
Schließlich waren alle verstummt. Thiudgif wechselte einen Blick mit Thiaminus, der ihr zunickte. Dann reichte sie ihm Radewigas Bogen und Köcher. Was sollte sie jetzt noch damit? Seine Augen waren ein wenig geweitet, seine Lippen schmal vor Anspannung.
Ein Kreischen ließ Thiudgif herumfahren. Sie erblickte zwei Krieger, die eine Frau ergriffen hatten. Privatus sprang auf und schleuderte einen Spieß auf die Angreifer, ein Aufstöhnen verriet, dass er getroffen hatte. Die Frau riss sich los. Thiudgif klaubte faustgroße Steine vom Boden auf, doch noch ehe sie diese werfen konnte, flogen weitere Spieße auf die Fremden, die daraufhin verschwanden.
»Nichts wie weg, ehe sie mit Verstärkung zurückkommen!«, rief Thiaminus.
Thiudgif und Amra nahmen Sura zwischen sich, schlichen geduckt aus dem Unterholz und rannten los. Amra umklammerte mit der freien Hand das helle Bündel. Thiudgifs Füße
hämmerten auf die Erde, ihr Herz schlug gegen den Brustkorb, als wollte es diesen sprengen. Aus dem Augenwinkel erkannte sie vereinzelte Lichter am Waldrand und Schatten. Lauf!, dachte sie, Lauf! Sura keuchte schon jetzt und ließ sich eher ziehen. Sie eilten durch einen Wiesenstreifen mit hohem Gras, dann schien alles niedergewalzt, und ein ekliger, süßer Geruch streifte sie. Bald hätten sie die Hälfte der Strecke bis zur Mauer geschafft.
Hinter ihnen ertönten Schreie. Thiudgif warf einen Blick über die Schulter, sah einzelne Schatten, die sich aus dem Wald lösten. Doch sie waren außer Reichweite der Waffen ihrer Verfolger. Ungeduldig zerrte sie an Suras Arm, beschleunigte ihre Schritte, obwohl Beine und Füße bereits heftig schmerzten.
Auch auf der Mauer bewegten sich Schatten. Thiudgif hielt auf das Tor zu, spähte über die grasbewachsene Ebene, um vorgelagerte Gräben in der Dunkelheit rechtzeitig zu erkennen und nicht in den sicheren Tod zu stürzen. Amra schwenkte das weiße Tuch über ihrem Kopf, damit die Verteidiger begriffen, dass sie Flüchtlinge waren. Thiudgif hörte die anderen Frauen rufen, sie ließ Suras Hand los und schickte Amra voraus, machte kurz kehrt, um die anderen anzuspornen. Fausta hatte Mühe mitzuhalten, und weit hinter ihnen am Waldrand waren Reiter zu sehen, Hufgetrappel näherte sich.
Eine der Frauen strauchelte. Thiudgif riss sie am Arm hoch, schubste sie weiter, packte Faustas Hand, die sich ihr Hilfe suchend entgegenstreckte, und zog die schwerfällige Frau mit sich. Doch sie waren zu langsam, unaufhaltsam näherten sich Krieger zu Pferd und zu Fuß und das Tor schien
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