Varus - Historischer Roman
Behutsam hatte Annius ihm aus einem der Schilde und einem Mantel eine Stütze errichtet, auf der er nun mit halb aufgerichtetem Oberkörper lag. Annius saß neben ihm, gab ihm Wasser zu trinken, tupfte ihm die Stirn ab. Im Morgengrauen öffnete er die Türe, damit Licht hereinfiel und Sabinus, wenn er den Kopf ein wenig zur Seite drehte, wenigstens einen Spaltbreit von der Lichtung draußen sehen konnte und nicht nur das Dach dieser schäbigen Hütte.
»Wir haben den Vogel nicht aufgegessen«, sagte Sabinus matt.
»Das holen wir nach.« Annius massierte sein Knie, das vom dauernden Hocken steif geworden und angeschwollen war. »Ich schieße eine neue Gans, eine fettere!«
Ein dünnes Lächeln umspielte Sabinus’ Lippen. »Vielleicht reicht es als Vorrat für dich, bis du den Rhenus erreichst.«
»Bis wir den Rhenus erreichen!«, berichtigte Annius und fuhr fort, seine Muskeln zu kneten.
Unversehens bemerkte er, dass es schon eine Weile sehr still war, und warf einen raschen Blick auf Sabinus, der mit leicht geöffnetem Mund zu schlafen schien. Er führte eine Hand zum Mund des Verwundeten, ohne ihn zu berühren, und stellte erleichtert einen warmen, wenn auch schwachen Atem fest. Sabinus’ Gesicht hatte alle Farbe verloren, und während Stirn und Hals im Fieber glühten, waren seine Hände, die kraftlos auf der Decke lagen, kalt.
»Versprich mir etwas, Titus Annius«, flüsterte er tonlos. »Versprich mir, dass du Vetera erreichst und diesen Ring und den Brief in die richtigen Hände gibst. Damit es nicht umsonst war.« Er hob seine Rechte ein wenig. »In die Hand, mein Freund!«
Zögernd schlug Annius ein, fühlte kalten, klebrigen Schweiß an den Fingern. Es war seine Schuld. Er hatte Sabinus gestoßen. Blindlings. Ein weiterer Toter, der einst Klage führen würde, wenn in der Unterwelt über ihn Gericht gehalten würde. Schuld auf Schuld hatte er angehäuft, getötet, weil er geglaubt hatte, der richtigen Sache zu dienen. Getötet, weil man es ihm befohlen hatte.
»Und noch etwas.« Sabinus’ Hand drückte schwach zu. »Das Mädchen … Such sie, mein Freund! Mach sie ausfindig!«
»Sie ist tot«, murmelte Annius erstickt.
»Das weißt du nicht. Such sie! Versprich es mir!«
Hilflos umschloss Annius Sabinus’ Rechte mit seinen Händen, nickte wortlos, und als Sabinus’ Blick eindringlich wurde, biss er sich auf die Lippen und versprach schließlich, alles zu tun, was in seinen Kräften stünde.
»Bei deinem Genius!«, drängte Sabinus.
»Bei meinem Genius.«
»Gut.« Sabinus ließ sich zurücksinken, und ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Als Annius mit frischem Wasser vom Bach zurückkehrte, fand er Sabinus leblos vor, halb von seiner notdürftigen Liege gerutscht, den Blick starr und staunend auf die Türöffnung gerichtet. Seine Augen waren getrocknet, das Herz eingeschlafen, der Atem geflohen. Annius drückte ihm behutsam die Lider zu, legte ihn zurecht und schloss ihm den Mund. Eine Münze hatte er nicht, um sie ihm unter die Zunge zu legen.
Nachdem er seine Sachen nach draußen geschafft und dem Maultier den Tragsattel aufgelegt hatte, hielt er inne. Nachdenklich stand er vor der Hütte, betrachtete das tief herabgezogene Dach aus Reetbündeln, die Wände aus Weidengeflecht, von dem der Lehmputz in dicken Brocken platzte, die Tür aus dürrem Holz. Sabinus war in einem Scheiterhaufen gestorben.
Was für ein Einfall! Annius schüttelte den Kopf, doch der Gedanke ließ sich nicht vertreiben. Blaesus und Venicius hatten sie nur notdürftig verscharrt aus Angst, ein Feuer würde die Mörder oder andere herumziehende Kriegertrupps auf sie aufmerksam machen. Aber war das nicht schon gleichgültig? Er fühlte den klebrig kalten Fieberschweiß des Toten an seinen Fingern, dann erwachte in ihm die Erinnerung an den warmen Blutschwall, der seine Hände und Arme getroffen hatte, als Varus sich den Dolch ins Herz gestoßen hatte, den Dolch, den jetzt er am Gürtel trug, damit Arminius nicht diesen höchsten Triumph über den verratenen Gönner errang. Er musste diesen Dolch ebenso wie Ring und Brief über den Rhenus schaffen, wollte er nicht, dass diese Dinge früher oder später in die Hände des Arminius fielen.
Eilig bepackte er das Maultier mit Sabinus’ Waffen, Rüstung und den Schilden, wappnete sich dann, ehe er den kleinen Beutel mit dem Feuerzeug hervorzog. Ein letztes Mal
betrat er die Hütte, stand vor dem toten Freund, den er in seinen Mantel gewickelt hatte. Ringsum
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