Varus - Historischer Roman
Thiudgif und einige andere Männer und Frauen, Flüchtlinge aus den umliegenden Dörfern, eilten an die Spitze des Zuges, wo Caedicius seinen großen Apfelschimmel führte, begleitet von seinem kleinen Stab. Vor ihnen öffnete sich das rechte Seitentor, das neben dem Eckturm errichtet war. Kundschafter und einige ausgewählte Soldaten mit dunklen Umhängen huschten hinaus in die mondlose Nacht, während Thiudgif sich mit einem wehen Schauder an Thiaminus und Privatus erinnerte, deren verstümmelte und enthauptete Leichen erst am Tag nach ihrem Tod hatten geborgen und bestattet werden können. Auf das offene Weideland hinauslaufen, es unbemerkt durchqueren zu müssen, erschien ihr eine unmögliche Aufgabe.
Lautlos betete sie um den Beistand der Geister dieses Ortes, wie sie es schon einmal getan hatte. Und sie hatten ihr beigestanden. Sie richtete den Blick auf den Signifer am Tor, der die Schar der Pfadfinder führen sollte, bis dieser lautlos das Feldzeichen drehte und in Richtung Tor senkte. Schnell drückte sie Suras Hand und eilte mit den anderen los. Kaum hatte sie das Tor hinter sich gebracht und die fahlen Lichtkegel unter der Mauer verlassen, umfing sie tiefe Finsternis. Der Wind trug das Rauschen der Blätter bis zu ihnen herüber, dumpf klangen Schritte und Hufschlag hinter ihnen. Thiudgif lief auf Zehenspitzen, spürte den festgetretenen Lehm und die Steine auf dem breiten Weg, dann seidiges Gras. Sie erreichten den Wald, schlüpften durch das Unterholz in den Schutz der Bäume. Hier wurden alle langsamer, weil die Finsternis noch dichter war als auf dem freien Feld.
Von nun an übernahmen die Leute aus den nahe gelegenen
Dörfern die Führung, suchten den Weg mit einer matt leuchtenden Laterne, während die anderen blind folgen mussten. Thiudgif blieb an der Spitze, bei den Kundschaftern und Pfadfindern, von denen sie selbst eine war; aus unerfindlichen Gründen fühlte sie sich hier sicherer als mitten unter den Soldaten. Sie huschten unter den Bäumen weiter, immer mehr Laternen wurden entzündet. Schließlich nahm eine alte Frau Thiudgif beiseite.
»Die Wege werden schlammig«, sagte sie. »Frag den Anführer der Römer, ob wir einen Umweg nehmen sollen, damit niemand im Sumpf stecken bleibt, oder ob wir den schnellsten Weg gehen sollen.«
»Du solltest mitkommen«, erwiderte Thiudgif.
»Wird er mir und diesen Leuten hier glauben?«
»Er hat euch das Heil all seiner Soldaten anvertraut - warum sollte er euch nicht glauben?«
Gemeinsam näherten sie sich Caedicius, Thiudgif aufrecht, die anderen Pfadfinder mit gebeugtem Nacken. Als sie das bemerkte, zog sie einen Atemzug lang den Kopf ein, entschied dann aber, dass das unter der Würde der Tochter eines Kriegers war. Caedicius gab ihnen Zeichen, neben ihm herzugehen; noch immer führte er seinen Apfelschimmel, wie auch die übrigen Offiziere neben ihren Pferden marschierten.
»Was ich über das Schicksal der Legionen des Varus erfahren habe, lehrt mich, den Sumpf zu umgehen«, sagte er, nachdem die Alte ihn in Kenntnis gesetzt hatte. »Wir haben ohnehin noch ein gehöriges Stück Weg vor uns, bevor wir außer Gefahr sind, aber im Dreck stecken zu bleiben wäre so ziemlich das Dümmste, was uns widerfahren könnte. Führt uns auf einem trockenen Weg.«
Die Alte und ihre Begleiter beeilten sich, wieder zur Spitze
des Zuges zu gelangen, doch als Thiudgif sich ihnen anschließen wollte, schnappte eine Hand nach ihrem Arm und hielt sie zurück.
»Warte, Mädchen!« Caedicius’ Stimme hatte den Klang eines Erwachsenen, der mit einem unmündigen Kind sprach. »Ich habe Fragen an dich. Es gibt Dinge, die mich in Erstaunen versetzen. Dass so ein junges Ding eine Gruppe Frauen, noch dazu eher anrüchige, tagelang durch die Wildnis führt, will mir nicht in den Kopf.«
»Das war nichts Bedeutsames«, entgegnete Thiudgif argwöhnisch. »Es ergab sich. Ich war die Einzige, die sich in den Wäldern ein wenig auskennt.«
Ihr Nackenhaar sträubte sich, und sie zog die Schultern hoch, bis er seinen Griff lockerte.
»Du bist eine Freigelassene«, fuhr er fort, und noch während er sprach, krampften sich ihre Finger um die Tafeln, die sie sich umgebunden hatte. »Was wirst du in Vetera tun?«
»Ich werde warten … auf meinen Herrn.«
Sie erhielt keine Antwort, stattdessen löste sich Caedicius’ Hand von ihrem Arm. Sie wandte sich um und erblickte den Reiter, der wild gestikulierend auf die Spitze des Zuges zustürmte. Dann hörte sie das aufwallende
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