Varus - Historischer Roman
neben ihr. »Ich habe an seiner Seite gekämpft, bis er wegen seiner vielen Verletzungen nicht mehr zu den Waffen gerufen wurde. Es ist eine Schande, dass er als Wehrloser von den Cheruskern erschlagen wurde und nicht im Kampf gegen die Römer fiel.«
Thiudgif fuhr herum. »Warum sagst du das?«
»Weil es sein Wunsch gewesen wäre.«
»Wo sind alle, die dort gelebt haben? Es sind nur wenige bei uns.«
»Viele waren schon geflüchtet, als die Nachricht vom Angriff auf das Heer der Römer uns erreichte. Später kamen dann die Krieger des Arminius und forderten Vieh und Getreide.«
Der Greis verließ den Weg, näherte sich den flachen, von niedrigen Steinmauern umgebenen Erdhaufen, in denen Thiudgif die Gräber der Ahnen erkannte. Sie lief dem Alten nach, fand das kleine Grab ihrer Mutter, das vollkommen zugewachsen war; doch sie kannte die Stelle, die sie nach deren Tod immer wieder aufgesucht hatte. Eine tief vergrabene Pein brach sich Bahn, umkrampfte ihr Herz, sodass sie mit geballten Fäusten vor diesem Flecken Erde stand. Jäh packte sie den Zopf, zerrte das Band heraus und löste die Flechten, dass sie in mattkupfernen Wellen über Schultern und Rücken fielen. Sie riss stumm an ihren Haaren, bis sie eine Strähne in der Hand hielt, kniete nieder und legte sie unter
einen faustgroßen Stein auf das Grab. Vielleicht war es die Mutter, ihr umherschweifender Geist, der sie nie verlassen hatte, ihr in der Not beigestanden war und sie nun hierhergeführt hatte. Thiudgif flüsterte Dank, während hinter ihr Soldaten zügig vorbeimarschierten.
Ihres Vaters Grab war noch frisch und sie betrachtete es mit einem Gefühl der Leere, als wäre der Mann, dessen Asche unter dieser Erde lag, ein Fremder geworden. Sie wünschte ihm Frieden und einen Platz unter seinen Vorfahren, hob dann den Blick zu dem Dorf auf dem Hügel. Sie sah sich als Kind auf der Hangwiese hüpfen, bei den Gänsen, die sie hütete. Sah sich mit den anderen Kindern balgen. Sah sich mit den anderen Mädchen - wo waren sie jetzt? - bei Abzählspielen und Reigen. Sah die Mädchen beim Frühlingsfest vor den jungen Männern weglaufen, ein Versteckspiel, bei dem sie, die magere, unschöne Tochter des Sahsmers, im letzten Frühjahr, bevor sie zu ihrem Onkel geschickt wurde, eigentlich nur geduldet worden war, denn die Burschen wollten nichts von ihr, sondern hatten es auf rosige Mädchen mit weichen, runden Gliedern abgesehen.
Matt lächelnd wandte Thiudgif sich ab und legte die Rechte fest auf die Wachstafeln. Sie musste eine neue Heimat finden.
Vetera war eine ummauerte Stadt auf einem Hügel, der zum Fluss hin steil abfiel, eine waffenstarrende Festung, geschützt durch Wasser und Fels. Als die Frauen die Fährboote verlie ßen, waren sie die Letzten, die den lange ersehnten sicheren Boden betraten. Mauern und Türme ragten dunkel vor der Abendsonne auf. An der Anlegestelle warteten ein paar Soldaten auf sie, führten sie ungefragt zu Caedicius, der wieder einmal mit Wachstafeln beschäftigt war. Vor ihm standen
Männer aus dem Lager, Gefreite, die frisch aussahen, nach sauberer Wolle rochen. Nach Frieden. Caedicius’ faltiges Gesicht zeigte tiefe Erschöpfung, aber noch mehr Erleichterung, als er sich Thiudgif schließlich zuwandte.
»Nun, meine Kleine, was wirst du jetzt tun?«, fragte er mit einem dünnen Lächeln.
»Warten«, erwiderte sie knapp.
»Auf deinen Patron, nicht wahr?« Er nickte und zog dabei die Brauen zusammen. »Und wo wirst du wohnen?«
Thiudgif nagte an der Unterlippe wie ein ertapptes Kind. Wieder lag ihre Hand auf den Wachstafeln. Amra hatte davon gesprochen, Leute von ihrem Volk zu suchen, die gebe es überall, wo römische Soldaten seien; viele seien Kaufleute, handelten mit Waren aus dem Osten des Imperiums, die überall begehrt waren. Sie hatte ihr versprochen, ihr eine Unterkunft zu besorgen, auch wenn ihre Leute in vielen Dingen sehr eigen seien und lieber unter sich blieben.
»Ich bin dir zu Dank verpflichtet«, sagte Caedicius. »Ohne die Hilfe deiner Leute hätten wir es nicht hierhergeschafft - zumindest nicht ohne große Verluste. Ich werde dafür sorgen, dass jeder von euch angemessen belohnt wird.«
»Ich möchte hier warten, bis ich Gewissheit habe, Lucius Caedicius. Und wenn …« Ihre Stimme erstickte an dem Kloß in ihrer Kehle.
»Wenn er nicht mehr kommt, meinst du?«
Mit gesenktem Kopf nickte sie mühsam. »Er gab mir einen Brief an seine Eltern mit«, flüsterte sie. »Dorthin solle ich gehen,
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