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Varus - Historischer Roman

Titel: Varus - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Kammerer
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welche Erleichterung der Anblick seines schmalen Gesichtes mit den dunklen Augen in ihr auslöste. Zu ihrer eigenen Überraschung kostete es sie Überwindung, ihm nicht um den Hals zu fallen. Allein der schuldbewusste Gedanke, dass seine zweite Tunica zusammen mit Laken, Tüchern und anderen Wäschestücken noch am Ufer des Visurgis hing, hielt sie davon ab.
    »Was ist geschehen?«
    Thiudgif öffnete den Mund und zögerte. Er würde ihr nicht glauben. Sie schluckte, faltete die Hände vor dem Bauch, knetete sie schmerzhaft.
    »Deine Tunica … am Visurgis gelassen«, stammelte sie und ihre Wangen brannten, weil sie keinen vollständigen Satz in seiner Sprache zusammenbrachte.
    Annius nickte nur kurz und hielt ihr den Beutel hin, den er über der Schulter getragen hatte. Sogleich stieg ihr der Duft von Honig, Nüssen und Blaubeeren, von warmem, frisch gebackenem Kuchen in die Nase.
    »Für mich?«
    Auf seinem Gesicht erschien ein feines Lächeln. »Für dich und für mich.«
    Sie nestelte den Knoten auf, und als sie den Beutel öffnete, zog sich in ihrem Mund alles schmerzhaft zusammen. Flink
fingerte sie einen der kleinen Kuchen heraus, hielt ihn unter ihre Nase, während ihr das Wasser im Mund zusammenlief, ehe sie ein winziges Stück von der warmen, ein wenig klebrigen Masse abbiss, um sie auf der Zunge zergehen zu lassen. Leise lachend nahm Annius ihr den Beutel ab.
    »Ich wusste, dass ich dir damit eine Freude machen kann.« Er zupfte am Ärmel ihres neuen Kittels. »Das sieht hübsch aus.«
    Thiudgif zuckte zusammen. Der Mann, der vor ihr stand, war größer als sie, stärker, und er versperrte ihr den Weg. Wieder trat ihr der ungleiche Kampf im Fluss vor Augen, und sie wischte hastig eine Haarsträhne aus der Stirn, dabei fiel ihr der Kuchen aus der Hand. Als Annius sich nach den Krümeln bückte, huschte sie an ihm vorbei, blieb erst in der Nähe der Tür stehen. Mit leicht zusammengezogenen Brauen schaute er sie an, die traurigen Reste des Kuchens in seiner Hand.
    »Du solltest inzwischen wissen, dass ich nicht die Absicht habe, dir wehzutun«, murrte er.
    Ein Frösteln überlief sie. Sie spürte den Drang zu erzählen, was sie gesehen hatte, und zugleich schnürte die Furcht ihr die Kehle zu. Er selbst mochte nicht die Absicht haben, ihr wehzutun, aber konnte er sie schützen vor dem, was ihr bevorstand, wenn sie dieses schreckliche Geschehnis nicht für sich behielte? Er müsste die Sache melden und offenbaren, wer Zeuge des Mordes war. Er müsste sie den römischen Richtern preisgeben, und die waren bekannt dafür, dass sie den Aussagen von Sklaven erst dann Glauben schenkten, wenn sie unter der Folter bestätigt worden waren. Thiudgif umklammerte ihre Oberarme, um das Zittern zu unterdrücken.
    »Was ist mit dir, Mädchen?«

    Sie kniff die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten, presste eine Hand auf ihren Mund. »Ich möchte nach Hause«, flüsterte sie.
    Er antwortete nicht. Er stand nur da, während ihm die Krümel durch die Finger rieselten, und sah sie an. Sie wollte wirklich nach Hause, nichts mehr als das. Ihr Vater würde sie beschützen. Er würde sie unter seinem Dach aufnehmen, und sie würde sein ärmliches Haus hüten und es nie wieder verlassen.
    »Das ist nicht möglich.« Annius’ Stimme zerriss die Stille und ihre Hoffnungen. »Ich kann dich nicht einfach gehen lassen. Wie willst du denn nach Hause finden?«
    »Ich kenne doch den Weg, auf dem man mich hergeschleppt hat!«, rief sie und würgte wieder an einem Schluchzen.
    »Glaubst du wirklich, du könntest allein gehen?«
    Sie zog die Schultern hoch, doch auch das half nichts mehr gegen den Tränenstrom, der unter den Lidern hervorquoll. Bald schmeckte sie das Salz auf den Lippen, schniefte, weil ihre Nase lief, und verabscheute sich für den jämmerlichen Anblick, den sie bot.
    Unversehens legten sich Hände um ihre Schultern, ihr Herr zog sie an sich, umarmte sie, strich ihr über das Haar. Sie rührte sich nicht.
    »Ich kann dich nicht gehen lassen, ich kann dich ja nicht begleiten«, sagte er leise, schob sie von sich. »Lass uns die Sachen holen, die du vergessen hast. Zeig mir, wo du sie aufgehängt hast.«
    Nach kurzem Zögern nickte sie, ließ sich den wollenen Mantel umlegen und folgte ihm hinaus in die Dämmerung.

    Zu seiner Überraschung sah Vala sich an diesem Morgen vom Statthalter zu einem Ausritt eingeladen. Als er bei den Stallungen eintraf, stand sein Lieblingspferd, eine iberische Rappstute namens Sagitta, bereits

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