Varus - Historischer Roman
aufgeklappte Tafel schräg ins Licht. Versuchte, die Restspuren der Buchstaben auf dem glatt gestrichenen Wachs zu entziffern. Las den kurzen Bericht, die aufgeregte Bitte des Boten. Als er aufblickte, sah er Sabinus’ verwirrte Miene.
»Was ist los?«
»Der Bote … Warum sagte er ihr? Warum sprach er nur von Feinden und nicht von unseren Feinden?«
»Was meinst du damit?«
»Er ist Soldat im Dienst des römischen Heeres, bezieht Sold, hat einen Treueid auf sein Feldzeichen geschworen, ein römisches Feldzeichen - aber er sprach, als gehörte er nicht zu uns, sondern sei ein Fremder, der uns … Ratschläge gibt.«
Sabinus schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu spitzfindig, mein Freund. Du solltest dein Mädchen besuchen, und«, er schlug sachte mit der Faust in die gewölbte Hand, »du solltest es endlich tun. Glaub mir, sie wartet darauf.«
Unwillig zog Annius die Brauen zusammen, griff nach dem Stieltopf und aß schweigend weiter, während Sabinus ihn aufmunternd angrinste.
»Ich werde sie zu ihrem Vater zurückbringen, wo sie hingehört«, sagte Annius schließlich.
»Du spinnst!«, entgegnete Sabinus. »Der will sie nicht zurückhaben. Jeder muss doch denken, sie sei schon gebraucht, deshalb kann er sie nicht mehr verheiraten und hat nur ein weiteres nutzloses Maul zu stopfen. Der verkauft sie an den ersten dahergelaufenen Kerl, an irgendeinen Händler. Mann!« Sabinus beugte sich vor. »Sie könnte es wahrlich schlechter treffen als mit dir.«
Annius löffelte wortlos seine Grütze, was den aufkeimenden Groll besänftigte. Gesättigt blickte er umher, erhielt auf einen Wink seine Feldflasche, in der nur noch ein Rest Wasser war, wie er am hohlen Gluckern erkannte. Als Sabinus hilflos die Achseln zuckte, langte er nach den drei anderen Feldflaschen.
»Ich gehe Wasser holen«, murmelte er und wandte sich zum Zeltausgang.
»Und geh zu ihr!«, rief Sabinus ihm nach.
Die tropfende Kapuze tief ins Gesicht gezogen, nahm Annius den Weg zum hinteren Teil des Lagers, wo der Tross der Achtzehnten und Neunzehnten Legion untergebracht war. Die Wagen, die langsam die nächtliche Lagerstraße hinaufrollten, zeigten Brandspuren und Schäden, viele der Knechte trugen Verbände oder humpelten. Von einem erfuhr Annius, dass dies die Überreste des Trosses der Neunzehnten waren; ein Teil sei bei Angriffen zerstört worden, vieles hätten sie zurücklassen müssen, weil Zugtiere geraubt und getötet worden seien. Die Frage nach den Frauen und Kindern stellte Annius lieber gar nicht erst.
Er reihte sich in die Schlange derer ein, die vor dem von den Pionieren neu ausgeschachteten Brunnen warteten, ließ die Flaschen füllen und hängte sie über die Schulter. Nach kurzem Nachdenken folgte er der Straße und äugte nach
Wagen, die innerhalb von Wall und Graben sonst nichts zu suchen hatten. Fackelschein und bunte Planen, helles Gekicher und Geflüster lockten, als wäre an diesem Tag gar nichts Besonderes geschehen. Ehe Annius ausweichen konnte, flog ihm schon eine Frau um den Hals, die nach Schweiß und süßen Ölen roch und sich gurrend an ihm rieb. Missmutig schubste er sie beiseite, hob die Feldflaschen vom Boden auf, die bei ihrem Aufprall heruntergefallen waren, und schritt davon, unbeirrt von den schrillen Flüchen, die sie ihm nachschickte.
Er setzte seine Suche fort, traf auf Familien, die im Schutz von Windschirmen an niedergebrannten Feuern saßen, prallte gegen ein Maultier, das überrascht brüllte, und schließlich auf einen Kameraden, der seine Frau suchte. Sie grüßten einander, und als Annius sich wieder umdrehte, sah er einen Schatten vor sich, der eine kleine Laterne trug, erkannte bloße Füße im zertrampelten, morastigen Gras. Eine Hand schob den Umhang aus der Stirn und enthüllte ihm das Gesicht des Mädchens.
»Rufilla«, rief er leise und hielt sich zurück, als ihm klar wurde, dass er sie gerade umarmen wollte.
»Ich habe gewartet«, sagte sie.
»Es … tut mir leid. Ich musste zu einer Beratung.«
»Gibt es Neuigkeiten? Werden wir hierbleiben?«
Zögernd hob er die Schultern, ließ sie wieder fallen, er wusste nicht, was er sagen sollte. Er musste sie nach Hause bringen, das war kein Leben für ein Mädchen, im Tross mitzulaufen, in schmutzigen Kleidern, ohne Schuhe, ohne Gelegenheit, sich reinlich zu halten.
»Ich bringe dich nach Hause«, flüsterte er. »Zu deinem Vater. Das verspreche ich dir.«
Ein schmales Lächeln hellte ihre Züge auf, die ihm grau
vor Erschöpfung
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