Vater. Mörder. Kind: Roman (German Edition)
einen Talisman. Wenn ich nicht sofort die Tür aufschließe, alarmiert sie die Polizei.
Ich setze mich aufs Bett und sage, sie soll sich entspannen. Ob sie denn gar nicht wissen wolle, wie meine Frau zu Tode gekommen sei. Sie gibt keine Antwort. Ich deute ihr Schweigen als Zustimmung.
»Es ist passiert, als Elisa versucht hat, nach unten zu gehen: Ich bin hinterher und hab sie an den Schultern festgehalten, noch bevor sie die erste Stufe erreichte. Dann habe ich sie gegen das Geländer geschubst, und sie ist mit der einen Seite drübergefallen. Dabei hat sie sich wohl die beiden Rippen gebrochen.«
Eine Verletzung dieser beiden Rippen ist gefährlich. Unter dem linken Rippenbogen sitzt die Milz, und man muss immer damit rechnen, dass sie etwas abbekommt. Eine beschädigte Milz kann sich wie ein Luftballon mit Blut vollsaugen. Wie ein ziemlich solider Luftballon allerdings, denn das kann über Stunden gehen. Sechs, acht Stunden. Manchmal auch zwölf.
»Aber irgendwann macht es peng, und sie platzt«, schließe ich. »Und in dem Moment kann man nicht mehr viel machen. Zweiseitige Milzruptur nennt man das.«
Unmittelbar vor der Milzblutung hat Elisa es offensichtlich noch geschafft, sich zum Fenster zu schleppen. Als sie es öffnete, sprang die Alarmanlage an. Die Szene, die der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes zu sehen bekam, war ebenso bizarr wie abscheulich: Der Kopf meiner Frau lag auf dem Fensterbrett wie auf einer Guillotine, all das Blut, das sie noch ausspucken konnte, bevor sie das Bewusstsein verlor, war die Hauswand hinuntergelaufen, bis hinab zum Boden.
An diesem Punkt, das ist mir klar, wird Laura sich fragen, warum ich nicht den Notarzt gerufen habe. Am Abend konnte meine Frau noch aufstehen, aber als man sie am nächsten Tag ins Krankenhaus brachte, gab es keine Hoffnung mehr. Um achtzehn Uhr einundvierzig ist sie im Reanimationszentrum gestorben.
»Du denkst, ich hätte mir meine Tat nicht bewusst gemacht. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es quälte mich. ›Verdrängungs- und Leugnungsstrategie‹ hat der Seelenklempner das genannt. Mit schizophrenen Zügen. Weil ich mich nie als unschuldig bezeichnet habe. Ich habe mich auch nie als Opfer einer Ungerechtigkeit gesehen. Bei der Polizei habe ich immer nur gesagt, dass ich mich nicht mehr gut erinnern kann und nicht den Eindruck hatte, dass es meiner Frau so schlecht ging.«
»Ich erklär es dir«, rede ich weiter und bringe das Beispiel mit der Weggabelung. »Du musst dich entscheiden, aber als du merkst, dass du die falsche Richtung eingeschlagen hast, kannst du nicht mehr umkehren, weil es eine Einbahnstraße ist. Was machst du also? Du wartest auf einen Abzweig, um auf den anderen Weg zu gelangen. Du wartest und denkst: Ganz ruhig, irgendwann muss es doch eine Möglichkeit geben, auf den anderen, den richtigen Weg zu kommen. Du wartest und gehst weiter, denn wenn du anhältst, findest du den Abzweig ganz sicher nicht. Du gehst und gehst, aber kein Abzweig in Sicht. Ich brauchte über drei Jahre, um einzusehen, dass er nie kommen würde, aus dem einfachen Grund, dass es ihn nicht gab. An dem Tag sagte der Gefängnispsychologe zu mir: Heute beginnt Ihre Heilung, Guerri.«
»Ich muss zugeben«, erzähle ich Laura weiter, »dass der Psychologe damals recht hatte. Aber als ich zurück in meine Zelle kam, habe ich erst einmal alles in Brand gesetzt. Fünf Wochen haben sie mir Beruhigungsmittel verabreicht. Und fast ein Jahr lang habe ich mich nicht von meiner Pritsche erhoben. Intensivtherapie mit Lithiumsalzen. Aufgedunsen wie eine Kröte war ich und ließ mich völlig gehen. Monatelang hab ich mich nicht rasiert, mir nicht die Haare schneiden lassen. Sie mussten mich zu zweit oder zu dritt unter die Dusche schleifen. Ich habe so gestunken, dass sie mich zu einem Typen in die Zelle steckten, der seine sechsjährige Nichte vergewaltigt hatte. Das habe ich erst später erfahren, und es wäre mir auch egal gewesen. Eines schönen Tages kam wieder der Psychologe und stellte mir eine Menge Fragen: ob ich Mafioso sei, ob ich schwere Krankheiten hätte, ob ich süchtig sei, ob ich mehr als zehn Jahre zu verbüßen hätte. Ich verneinte all seine Fragen. ›Dann habe ich eine Idee, wie ich Ihnen weiterhelfen könnte, Guerri.‹ Welche hat er nicht gesagt. Er wollte nur wissen: ›Vertrauen Sie mir, ja oder nein?‹ ›Das ist wieder so eine Gabelung, stimmt’s?‹, habe ich gefragt. ›Genau, Sie müssen sich entscheiden‹, war seine Antwort.
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