Vater, Mutter, Tod (German Edition)
selbst nicht mehr, ob Susanne nun wegen der Kopfschmerzen oder der Psyche zum Arzt gegangen war. Egal.
»Du steckst mit ihm unter einer Decke, oder?«
»Was?«
»Mit Rakowski. Ihr habt euch gegen mich verschworen.«
Seinen fehlenden Widerspruch interpretierte sie als Zustimmung. Ihre Erregung wuchs an, ihre Stimme wurde sicherer und lauter. Das Weinglas stellte sie vor sich auf den Wohnzimmertisch.
»Ihr wollt mich glauben lassen, ich wäre verrückt. Durchgeknallt. Würde mir irgendwelche Sachen einbilden. Und Personen.«
René saß ihr einfach nur gegenüber, hörte zu und schwieg.
»Aber es gibt sie doch wirklich. Ich meine, diese Paula. Ich bilde sie mir doch nicht ein? Sie existiert.«
Langsam senkte sich Renés Kinn.
»Ich wusste es. Ich wusste es die ganze Zeit. Und sie versucht, dich mir wegzunehmen. So ist es doch, oder?«
Weil René nichts erwiderte, fasste sie ihn an den Schultern. Sie rüttelte ihn und er ließ es einfach mit sich geschehen. Sein Wein schwappte über, auf seiner Anzughose bildete sich ein roter Fleck.
»Antworte mir! Sie versucht, dich mir wegzunehmen. So ist es doch, oder?«
Sie sah, dass er mit sich haderte; schließlich nickte er.
Eine Woge des Triumphs flutete durch ihren Körper. Den Specht hörte sie nur noch aus weiter Ferne.
»Du hast mir seit Wochen Medikamente verabreicht, die meine Persönlichkeit verändert haben. Immer, wenn ich dich um ein Aspirin gebeten hatte.«
Sie wartete seine Zustimmung nicht ab, sie benötigte sie nicht mehr.
»Und Rakowski sollte zu Ende bringen, was du angefangen hast. Damit sie hier einziehen kann, hier in mein Haus. Damit sie in meinem Bett liegt, an deiner Seite.«
Endlich hatte sie René da, wo sie ihn haben wollte. Er knickte ein.
Sie wurde wieder leiser.
»›Je t’aime‹«, sagte sie. »Du hast es damals zu mir gesagt, und du hast es vorhin wiederholt.«
Sie beugte sich zu ihm, fixierte seine Augen. Seine Pupillen flackerten leicht, doch er hielt ihrem Blick stand.
»Du liebst mich doch immer noch?«
Hatte er genickt? Ganz bestimmt.
»Ich dich auch. Und ich werde nicht zulassen, dass sich diese Frau zwischen uns drängt und mir mein Leben wegnimmt. Mein Leben. Meinen Mann. Und meinen Sohn.«
Beim letzten Wort weiteten sich Renés Pupillen, sein Körper zuckte.
»Lukas«, flüsterte er.
Jacqueline dachte an den Jungen und lächelte.
»Ja. Du, ich und Lukas. Sie wird unsere Familie nicht zerstören.«
»Lukas«, wiederholte er. »Wo ist er?«
»Wir werden alle wieder zusammen sein?«
»Ja, Jackie. Bitte, sag mir, wo er ist. Geht es ihm gut?«
René hatte seinen Liebesschwur erneuert. Sie spürte, dass er es ehrlich mit ihr meinte. Nichts würde sie nun mehr trennen. Sie konnte ihm Lukas’ Aufenthaltsort getrost verraten.
»Er ist …«
Sie unterbrach sich. Sie hatte ein Geräusch gehört.
Das Knacken eines Schlüssels, der eine Tür öffnete.
Paula.
Und mit der Rivalin kehrte auch der Specht zurück, seine Lautstärke quälend, seine Taktzahl in unerbittlicher Höhe.
16. Kapitel
Sechs Tage vor der Katharsis;
abends
D ie Frau hielt den Jungen an der Hand und zog ihn hinter sich her. Als sie die gläserne Eingangstür des Mietblocks in Berlin-Neukölln aufschloss, wünschte sie sehr, unbemerkt eintreten zu können.
Ihre Hoffnung wurde nicht erfüllt.
Wie so oft öffnete sich die Wohnungstür im Hochparterre.
Die alte Frau Lutter starrte der Frau mit zusammengekniffenen Augen entgegen. Während sie zum Sprechen ansetzte, schob sie mit der Zunge ihr Gebiss an die korrekte Stelle.
»Ach, Sie sind es. Heute geht es hier wieder zu wie im Taubenschlag.«
Wenn dein Ohr nicht ständig an der Wohnungstür kleben würde, hättest du auch deine Ruhe, dachte die Frau.
»Guten Tag, Frau Lutter«, sagte sie und spielte der Alten Freundlichkeit vor.
Mit ihrer zittrigen Rechten strich sich Frau Lutter durch spärliches Haar und einen Rest Frisur.
»Diese Russenkinder sind wieder den ganzen Tag die Treppen rauf- und runtergerannt.«
Um zum Aufzug zu gelangen, musste die Frau leider direkt an der Tür der Alten vorbei. Die Frau war inzwischen davon überzeugt, dass Frau Lutter die Wohnung damals aus strategischen Gründen gewählt hatte. An keiner anderen Stelle im Haus hatte man einen besseren Überblick darüber, wer wann aus und ein ging.
Lange kann die Vettel hier nicht mehr den Pförtner spielen, dachte die Frau. Vielleicht sollte ich ihr schon mal ein paar Prospekte von Altersheimen in den Briefkasten
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