Vater, Mutter, Tod (German Edition)
unterschrieben.«
»Ja, und jetzt wirst du Zimmermann. Toll.«
»Du weißt doch, dass das nicht meine erste Wahl war. Aber man kann ja froh sein, wenn man überhaupt eine Lehrstelle bekommt. Weißt du, wie viele aus meiner Klasse immer noch keine haben? Und du, du hast ja auch noch keine.«
»Eine Freundin meiner Mutter kann mich vielleicht in der Bäckerei unterbringen, in der sie arbeitet.«
»Super. Mensch. Ich freue mich. Und das erzählst du mir erst jetzt?«
Für einen Moment spürte Jackie den Hautkontakt wieder intensiver.
Sie sah kurz zu René, dann gleich wieder zurück zu Gwendoline.
»Na ja, ›Verkäuferin‹.«
»Du sagst das ebenso abwertend wie ›Zimmermann‹.«
»War nicht so gemeint.«
»Ich glaube doch.«
Er zog seine Hand unter ihrer Bluse hervor und legte sie auf die Bettdecke.
»Du hältst mich für einen Versager«, konstatierte er.
»Nein«, sagte sie schnell.
»Du meinst, ich könnte keine Familie ernähren.«
Sie schwieg.
»Dir nicht das bieten, was du gerne hättest.«
»Meine Mutter knausert an allem. Sie dreht jeden Pfennig viermal um.«
»Ich bin nicht wie dein Vater.«
Ihr Vater widersprach ihrer Mutter nie. Mutter hatte in der Beziehung die Hosen an, sie schimpfte und maßregelte ihn. Vater harrte einfach nur aus, saß still da und ließ die Tiraden über sich ergehen. Beide hatten sich längst in ihr gemeinsames Schicksal ergeben.
Plötzlich spürte sie Renés Finger an ihrem Kinn. Mit einer resoluten Bewegung drehte er ihren Kopf zu sich. Seine Hand fixierte ihr Kinn, sie musste ihn ansehen.
»Ich bin nicht wie dein Vater«, wiederholte er.
»Du hättest auf dem Gymnasium bleiben sollen.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem zynischen Lächeln.
»Aber du hast doch selbst gesagt, dass ich auf die Realschule runterwechseln soll.«
»Ja, aber das war ein Fehler.«
Er presste die Lippen aufeinander, atmete hörbar durch die Nase. Obwohl sein Kopf immer noch in seiner Rechten ruhte, gelang es ihm, ihn leicht zu schütteln.
»Du meinst erst, dass ich das Gymnasium verlassen soll, und dann sagst du, dass es falsch war?«
Sie hasste es, sich rechtfertigen zu müssen.
»Ich weiß ja auch nicht, wie es weitergeht.«
»Sieht so aus, als hättest du deine Entscheidung längst getroffen.«
»Ich möchte einfach nur glücklich sein.«
»Und das kannst du mit mir nicht?«
»Ich habe Träume, René.«
»Glaubst du, ich nicht?«
»Und wie willst du die verwirklichen? Als Zimmermann?«
»Jackie. Wir sind sechzehn. Unser ganzes Leben liegt noch vor uns.«
Jackie griff nach seiner Hand und löste sie von ihrem Kinn. Er ließ es geschehen.
»Ich möchte meinen eigenen Weg gehen, René.«
In seinem Blick schimmerte ein letzter Funken Hoffnung.
»René aime Jacqueline. Jacqueline aime René«, flüsterte er die Worte, die ihr Herz so oft so weich hatten werden lassen. Heute blieb es hart. Die Stiche ignorierte sie.
Sie versuchte, möglichst selbstsicher zu wirken. Sie wollte nicht, dass René kämpfte.
Endlich las sie in seinen Augen, dass er resignierte. Ihre Worte waren wie ein unerwarteter Regenschwall auf ihn niedergegangen. Er musste erst mal seine Gedanken sortieren, das sah sie ihm an.
»Dann geh deinen Weg«, erwiderte er trotzig.
Sein Blick wanderte hinüber zur Zimmertür. Sie verstand. Sorgfältig strich sie ihre Bluse glatt und stand auf.
Kein Wort des Abschieds kam über seine Lippen.
Jackie ging einfach hinaus, hinaus aus seinem Zimmer, hinaus aus seinem Leben.
Sie wusste, dass er jetzt – im Gegensatz zu ihr – weinen würde.
26. Kapitel
Sieben Tage vor der Katharsis;
spätnachmittags
W ohl eher zwanzig Jahre«, bestätigte René und lächelte zurück.
Die beiden lösten sich voneinander, traten einen Schritt zurück und musterten sich.
Die Zeit hatte Spuren an ihm hinterlassen, erkannte Jacqueline, doch war sie weitaus gnädiger mit René gewesen als mit ihr selbst oder mit Thorsten.
Und Kleider machen Leute, dachte sie, denn er wirkte außerordentlich attraktiv in seinem Anzug. Jacqueline vermutete eine Maßanfertigung.
»Du siehst toll aus«, urteilte er, und Jacqueline war sich unsicher, ob er es ehrlich meinte oder ob er lediglich eine Floskel bemühte.
Verglichen mit ihm fühlte sie sich schäbig in ihren Alltagsklamotten.
»Du aber auch«, mehr brachte sie im Moment nicht hervor.
Sie fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Die plötzliche Erinnerung an lang vergessene Momente trauter Zweisamkeit raubten ihr immer noch
Weitere Kostenlose Bücher