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Vater, Mutter, Tod (German Edition)

Vater, Mutter, Tod (German Edition)

Titel: Vater, Mutter, Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Langer
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Feld.
    Um Jacqueline herum versanken alle Sinneseindrücke, als wäre sie in einen riesigen Wattebausch gepackt.
    Lediglich ihr eigenes Herz hörte sie noch schlagen.
    Ein Geräusch, zu dem der tote Körper vor ihr nicht mehr fähig war.
    Sie kniete auf dem Teppich und stützte sich mit den Händen ab, die Fingerkuppen ihrer Linken im Blut ihres Sohnes.
    So verharrte sie, den Kopf frei von Gedanken, schwebend im Nichts.
    Sie verharrte, während sich die Zeit, die um sie herum verging, zur Illusion wandelte.
    Aus der Zeitlosigkeit kämpfte sich ein Wunsch in Jacquelines Bewusstsein. Langsam, aber stetig stieg er auf. Schließlich materialisierte er sich.
    Es kostete sie die größte Kraftanstrengung ihres Lebens, zurück zum Gesicht ihres Sohnes zu blicken, zu den Augen, die sie unbarmherzig anklagten.
    ›Dreh deinen Kopf‹, lautete der Wunsch, gefolgt von dem Wörtchen ›bitte‹.
    Er erfüllte sich nicht, auch nicht bei seiner hundertsten Wiederholung.
    Viel später spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
    Wie lange sie dort schon ruhte, wusste sie nicht. Sie drehte sich zur Seite und erkannte Thorsten neben sich, ebenso am Boden kniend wie sie selbst, zwischen ihm und dem toten Jungen das blutbefleckte Brotmesser.
    Thorsten sah sie an und gleichzeitig durch sie hindurch.
    Seine Lippen bewegten sich, er flüsterte etwas, immer und immer wieder.
    Langsam schälten sich seine Worte aus der Stille.
    »Es ist nicht meine Schuld. Es war ein Versehen.«
    Sie hörte ihm zu, wie er die Sätze betonungslos rezitierte.
    Irgendwann wurde ihr bewusst, dass sie den Kopf schüttelte.
    »Du hast ihn getötet«, formulierte ihr Unterbewusstsein und zwang ihren Mund, es auszusprechen; leise zunächst.
    »Es ist nicht meine Schuld. Es war ein Versehen.«
    »Du hast ihn getötet.«
    »Es ist nicht meine Schuld. Es war ein Versehen.«
    »Du hast ihn getötet.«
    »Es ist nicht meine Schuld …«
    Als habe jemand einen Schalter umgelegt, kehrte plötzlich ihre Energie zurück.
    Sie unterbrach ihn, schrie ihn an.
    Sie ballte die Hände, schlug damit ziellos auf ihren Mann ein.
    Der ließ es zunächst geschehen, bis er endlich selbst aus dem Bann erwachte. Er griff nach Jacquelines Handgelenken und umklammerte sie.
    »Es war ein Versehen.«
    Die Kraft, sich zu wehren, fehlte ihr ebenso wie der dazugehörige Wille.
    Sie verlor das Gleichgewicht und kippte gegen Thorsten.
    Der ließ ihre Hände los und nahm sie schützend in die Arme.
    »Du hast ihn getötet«, schluchzte sie.
    Schweigend drückte Thorsten sie an sich.

28. Kapitel
    Sieben Tage vor der Katharsis;
spätnachmittags
     
    W ährend René Jacqueline die zweite Tasse Rooibos-Tee einschenkte, fiel ihr Blick auf den siebenarmigen Kerzenständer, der auf einem Sideboard stand.
    Gusseisern und mit barocken Verzierungen, wollte er ins moderne Design der Wohnküche nicht so recht passen, und doch wirkte es so, als habe er einen Ehrenplatz.
    »Ein Familienerbstück«, erklärte René. »Er stammt noch aus Ostpreußen und ist seit fünf Generationen im Besitz meiner Familie. Paula hatte vergangene Woche Geburtstag, meine Mutter hat ihn ihr feierlich übergeben. Sie konnte sich selbst nur ganz schwer trennen. Mit Tränen in den Augen hat sie davon erzählt, wie sie ihn damals von ihrer eigenen Mutter geschenkt bekam.«
    Jacqueline stand auf, ging hinüber und streckte gerade ihre Finger aus, um das gute Stück zu berühren, als sie ein Geräusch hörte. Ein Schlüssel, der sich im Schloss drehte.
    Klackende Töne hochhackiger Schuhe, und schon stand sie im Türrahmen: Paula!
    Feuerrotes, lockiges Haar, die Wangen leicht gerötet.
    Sie trug einen graumelierten Hosenanzug, der ihre schlanke Figur betonte.
    Über der Schulter eine kleine schwarze Handtasche, unter dem Arm eine lederne Aktenmappe. Nur die große grüne Flasche in ihrer Rechten irritierte Jacqueline.
    Jetzt trafen sich ihre Blicke.
    Paula wirkte wie ein Mensch, der sich unter Kontrolle hielt, und doch gutgelaunt und fröhlich. Nur für den kurzen Augenblick, in dem sie der fremden Frau in ihrem Haus gewahr wurde, wechselte ihr Gesichtsausdruck zu Verwunderung, ehe sie sofort wieder zu ihrer Haltung zurückfand.
    René sprang auf.
    Auch er schien erstaunt über die Flasche, eilte jedoch zielstrebig auf seine Frau zu und küsste sie zärtlich auf die Lippen.
    »Das ist Paula.«
    Den Stolz in seiner Stimme empfand Jacqueline als Hörigkeit.
    Mit einer großen Geste wies er in ihre Richtung.
    »Und das ist Jackie.«
    Paula

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