Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
sie schwitzten, sie rochen nach Alkohol.
Diese Männer nicht. Sie waren ernst. Sie hatten etwas Kaltes. Wie der Tod. Diese Männer gehörten zu einem Teil ihres Lebens, von dem weder Nicki noch Lena noch Jimmy eine Ahnung hatten. Einem Teil, der sich sogar Sarahs Einblick entzog. Über zwanzig Jahre lang. Bis sie eine Therapeutin fanden, der sie zutrauten, das Wissen zu ertragen, aus welcher Welt sie in Wirklichkeit kamen.
Gisela Bahr ging tatsächlich mit ihrer Tochter zur Erziehungsberatung. Der Berater stellte die überdurchschnittliche Intelligenz von Angela fest. Sonst stellte er nichts fest. Kein Wunder, er hatte ja auch mit der fleißigen Tamara gesprochen. Die war immer da, wenn es um Leistung ging. Außerdem hatte sie in diesem Jahr die wenigsten Ausfälle in der Schule.
Die Noten für Angelas Klassenarbeiten in einem Fach konnten innerhalb eines Jahres das ganze Spektrum von »1« bis »6« abdecken. In den Schulzeugnissen bemerkt man nichts davon: Sie liegen, erstaunlich gleichmäßig, zwischen »2« und »3«. Der Grund: Um mit Angelas unerklärlichen Leistungsabstürzen umzugehen, wussten sich die Lehrer und Lehrerinnen nicht anders zu helfen, als alle Zensuren eines Halbjahres zusammenzuzählen und durch die Anzahl der Arbeiten zu teilen. Das ergab den unauffälligen Durchschnitt.
Hin und wieder standen auch Vermerke im Klassenbuch. Sie gingen immer in dieselbe Richtung: »Angela musste wiederholt gerügt werden, weil sie vergesslich war.«
Für kurze Zeit waren sich zwei Welten so nahegekommen, dass sie sich berührt hatten. Dann war der Moment vorüber. Erst nach zwanzig Jahren gab es eine neue Chance.
Aus diesem Erlebnis lernte Angela, dass es lebensgefährlich ist, sich Außenstehenden anzuvertrauen. Um sicherzustellen, dass sie das nie vergessen würde, entstand in ihrem inneren System eine weitere Person: Sigurd.
Sigurds Aufgabe war es, die anderen Persönlichkeiten vor Enttäuschungen zu bewahren. Sigurd erlebte Misshandlungen durch die Mutter, und er hörte sie immer wieder sagen: »Dir glaubt doch keiner. Du bist eine Lügnerin. Menschen kann man nicht vertrauen. Alle Menschen lassen einen im Stich.« So erfüllte er seine Aufgabe, so gut er konnte; indem er das Einzige, was er wusste, immer wiederholte, zerstörte er das Vertrauen in andere Menschen. Wo keine Hoffnung ist, kann es auch keine Enttäuschung geben, sagte er sich.
Für äußere Beobachter verlief Angelas Leben relativ unauffällig bis zum Tode des Vaters. Als er starb, schöpften viele ihrer Persönlichkeiten neue Hoffnung: Nun endlich würden die Misshandlungen und die sexuelle Gewalt aufhören. Schließlich war er der Initiator und Organisator gewesen.
Nur eine einzige Person war bei seinem Tode untröstlich: Stefanie. Bei der Beerdigung hörte sie auf zu existieren.
DOPPELKOPF
N ina Temberg saß am Fenster in ihrer Praxis und schaute hinaus in den trüben Dezembernachmittag. Es hatte angefangen zu schneien, vereinzelte, nasse Schneeflocken sanken herab. Ninas Blick folgte den Flocken, ohne sie wirklich zu sehen. Sie hielt einen Füllfederhalter in der Hand, mit dem sie sich hin und wieder Notizen machte.
Drei Jahre kannte sie Angela Lenz nun. Jahre, die ihr Bild von der Welt und den Menschen unwiederbringlich verändert hatten. Lieber hätte sie nicht erfahren, was sie nun wusste.
Trotzdem war es in Ordnung, wie es gekommen war. Sie hatte viel gegeben, über ihre Grenzen hinaus. Aber sie hatte auch viel zurückbekommen. Es war ausgeglichen, fand Nina. Wann immer Angela außerhalb der Therapiestunden geschrieben oder angerufen hatte, es war aus echter Not geschehen. Nie hatte sich Nina missbraucht gefühlt.
Und die Fortschritte der großen und kleinen Persönlichkeiten mitzuerleben, war eine menschliche Bereicherung, auf die Nina nie hätte verzichten wollen. Die liebevolle Dankbarkeit der kleinen Lena, die gefühlvolle Tiefe von Traute, die fachlichen Beratungen mit »Co-Therapeutin« Sarah, die Auseinandersetzungen mit dem Macho-Gehabe der Jugendlichen, die wilden Spiele der kleinen Jungen. Extra für die Jungen hatte Nina Temberg kürzlich ein Tischfußballspiel besorgt. Spielpausen für die Kinder einzubauen gehörte zu ihrem Therapiekonzept. So bekamen die Kleinen eine Chance, die schönen Seiten der Kindheit wenigstens nachträglich zu erleben. Im inneren System bewirkte dies ein Nachlassen des Drucks, weniger Kopfschmerzen, mehr Kontrolle: Wenn die Kinder spürten, dass sie zu ihrem Recht kamen, waren sie in
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