Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
verteilt waren, würde dann sie tragen müssen. Würde sie das überhaupt ertragen können? Niemand von ihnen hatte diese Gesamtschau, nicht einmal Sarah. Sämtliche Erinnerungen und alle Gefühle? Hatten sie sich nicht gerade deshalb aufgespalten, weil das unerträglich war?
Aus diesen Gründen erscheint eine Integration in ein einziges Individuum aus der Sicht vieler Multipler Persönlichkeiten überhaupt nicht erstrebenswert. Daher läuft die Therapie häufig auf eine optimale Kooperation aller hinaus. Viele schwache oder sehr junge Persönlichkeiten integrieren sich freiwillig in ältere; ihre Erinnerungen und Eigenschaften gehen dabei nicht verloren, sondern werden von anderen übernommen. Diese Integration muss von beiden Persönlichkeiten gewünscht sein, sonst bricht die fragile Verbindung wieder auseinander. Stärkere oder ältere Persönlichkeiten, oder solche mit wichtigen Aufgaben, lernen sich so zu strukturieren, dass sie ihren gemeinsamen Alltag möglichst gut organisieren können.
Hin und wieder hatte es auch bei Angela schon Integrationen einzelner Persönlichkeiten gegeben. Sie geschahen spontan oder geplant. Dina, die mit Hunden gequält worden war und nur diese Erinnerung trug, sie aber nicht ertragen konnte, integrierte sich in Traute. Nach der Integration wurde Dinas traumatisches Erlebnis zu einer bewussten Erinnerung von Traute: grausam, aber weit zurückliegend, nicht mehr gefährlich. Und noch etwas änderte sich: Von nun an fürchtete Traute sich vor Boxerhunden, ein Gefühl, das sie vorher nicht gespürt hatte. Und das den Umgang mit ihrem eigenen jungen Boxer eine Weile erschwerte.
Die geplante Integration von Traute und Stefanie hatte ein anderes Ziel als Dinas Integration: Beide sollten sich in ihren Stärken ergänzen. Diese Integration von Stefanie und Traute war eigentlich naheliegend, denn beide waren Teile der Gastgeberpersönlichkeit. Der Person, die meistens nach außen agiert, ständig Zeitlücken hat, verzagt ist, ängstlich und depressiv. Für Stefanie traf das allerdings kaum zu. Das mit den Zeitlücken schon, aber verzagt war sie nicht. Eher aufmüpfig, kernig, frech.
Deshalb vermuteten Sarah und Nina Temberg, die beiden könnten sich ganz hervorragend ergänzen: Die eine würde deranderen Tiefe und Sensibilität, die andere der einen Lebensmut geben.
Allerdings mussten sie sich dafür erst einmal richtig kennenlernen. Ein spannender Moment. Immerhin mochten sie sich sofort, wie Nina erleichtert von beiden hörte. Dann sollten sie ihre Lebensgeschichten austauschen. Beide wussten inzwischen schon vieles aus der Zeit bis zum vierzehnten Lebensjahr. Stefanie hatte sehr ungern hingehört, als die anderen erzählten, was ihnen passiert war in den Zeiten, als Stefanie mal wieder nicht da war. Am liebsten wollte sie auch heute noch nicht damit behelligt werden. Nach ihren Wünschen gefragt, sagte Stefanie, sie wollte viel lieber in Diskos gehen, Jungs aufreißen und scharf machen, und dann wieder verduften – ihr Lieblingsspiel.
Traute hingegen hatte mit Schmerzen gehört, was die anderen durchmachen mussten, als es sie selbst, Traute, noch gar nicht gegeben hatte. Nur ihren Körper.
Nun sollte Stefanie von Traute erfahren, wie das Leben weitergegangen war in den achtzehn Jahren, die Stefanie fehlten, seit sie im Grab ihres Vaters verschwunden war. Als Traute so unvermittelt und ahnungslos aufgetaucht war. Damals, als viele von ihnen hofften, dass sie nun endlich befreit wären von ihrer unerträglichen Last.
Und als das Leben allmählich zusammenbrach.
TRAUTE
»Wenn ich mich betrachte, dann sehe ich mich
selber als Eiszapfen im Leben hängen, das andere für mich leben.«
Traute 1991
1975
Am 1. Januar beginnt das »Jahr der Frau«
Die Fristenlösung des § 218 wird für verfassungswidrig erklärt
35 Staaten unterzeichnen KSZE-Schlussakte:
Gewaltverzicht, Selbstbestimmungsrecht der Völker,
Achtung der Menschenrechte
F.J. Strauß: SPD-FDP-Koalition habe BRD zu
»Saustall ohnegleichen« gemacht
Gerald Ford besucht als erster US-Präsident das KZ Auschwitz
Frauenmörder Fritz Honka wird festgenommen
Volljährigkeit beginnt mit 18 Jahren
Kino: »Die Akte Odessa«
Hitparade: »Ein ehrenwertes Haus«
Am Grab: 11. März 1975
Das da unten im Sarg, wenn das mein Vater ist, dann muss die Frau neben mir, die so weint, meine Mutter sein. Und auf der anderen Seite, das ist dann wohl mein Bruder. Wie heißt er? Hans. Woran ist mein Vater gestorben? Krebs. Wie alt ist er geworden?
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