Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Der tut dir bestimmt nichts.«
Ob er ihr manchmal einen Klaps gab? Na ja, vielleicht war sie zu Hause auch so unberechenbar wie in der Schule.
»So was darfst du doch über deinen Vater nicht sagen. Der meint es bestimmt nur gut mit dir.«
Siehst du, sie glaubt uns nicht.
Die Kleine stand immer noch vor ihr und schaute hoch. Erwartungsvoll.
»So, ja«, sagte Evelyn Keller hilflos, »dann geh mal jetzt auch nach Hause.« Sie streichelte dem Mädchen über den Kopf. »Die anderen sind schon alle weg«, fügte sie etwas sinnlos hinzu und griff nach ihrer Aktentasche.
Was nun?
Das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck. Evelyn legte ihr leicht die Hand auf die Schulter, drehte sie Richtung Tür, schob sie ein wenig an, und die Kleine marschierte los.
Wie ein Roboter.
Dort drehte sie sich um, strahlte und sagte: »Am Wochenende spielt mein Papi immer Klavier. Und dann fahren wir alle zusammen zum Schwimmtraining. Da haben wir viel Spaß. Auf Wiedersehen, Fräulein Keller.«
Dann machte sie tatsächlich einen Knicks und verschwand hinter der Tür. Irgendwie war das noch viel atemberaubender als die Geschichte vom Albtraum. Eigentlich hatte Evelyn sofortzum Einkaufen fahren wollen, aber nun war sie so beunruhigt, dass sie ins Sekretariat ging, die Nummer von Angelas Vater heraussuchte, um ihm von den Albträumen und schlimmen Phantasien seiner Tochter zu erzählen.
Etwas stimmte mit dem Mädchen nicht.
Aber gemeinsam würden sie ihr sicher helfen können. Am Abend, bevor die Kollegen kamen, wollte sie mit dem Vater sprechen. Nach diesem Entschluss ging sie erleichtert einkaufen.
Während Evelyn im Supermarkt Spaghetti, Parmesankäse, Hack, Tomatenmark und Erdnussflips in den Einkaufskorb häufte, lief Angela zum Schwimmtraining. Sie hüpfte fröhlich die Straße entlang, dass der Ranzen auf ihrem Rücken tanzte. Aufs Schwimmen freute sie sich immer. Im Wasser war sie für sich. Da konnte sie richtig was leisten. Leistung war wichtig. Das war ihre Aufgabe. Mit jeder neuen Bestleistung konnte sie ihrem Vater eine Freude machen. Irgendwann würde er sie bestimmt loben.
Zwei Stunden später hob Evelyn die Einkaufstasche auf den Küchentisch in ihrer Wohnung. Ihrer ersten eigenen. Auf die sie sehr stolz war. Zwar gab es kein Schlafzimmer und nur ein winziges Bad, aber egal. Auch die Kochnische war klein, aber Evelyn kochte und backte begeistert. Besonders für ihren Freund.
Sie warf den Mantel auf die Couch, drehte das Radio an und begann, die Einkäufe auszupacken. Aber die klagenden Elektrogitarren von Santanas »Black Magic Woman« machten sie melancholisch, und sie kurbelte weiter am Senderknopf. Bei Andy Kims orchestralem Jubelruf, »Be my, be my Baby«, blieb sie hängen, ihre unbeschwerte Wochenendstimmung kehrte zurück. Während sie Hack und Tomatenmark wegordnete, ließ sie die Details des morgigen Samstags durch ihre Phantasie ziehen. Und freute sich.
Am Boden der Tasche lag ein Zettel. Die Rechnung, dachte Evelyn und warf sie in den Mülleimer. Aber irgendetwas stimmte nicht, sie hob den Deckel wieder an, nahm die Rechnung heraus und entdeckte, dass es ein Zettel mit einer Telefonnummer war. Herr Bahr, dachte sie, Angelas Vater, richtig, ihn wollte sie noch anrufen.
Ja, das musste sie wohl tun.
Es fiel ihr schwer. Sie wiederholte nicht genau, was das Mädchen gesagt hatte. Nur ungefähr. Konnte sich jetzt auch gar nicht mehr so recht an die Worte erinnern.
Aber das Gespräch lief leichter, als sie erwartet hatte. Es gelang Werner Bahr, sie zu beruhigen. Er kannte die lebhafte Phantasie seiner Tochter, sagte er und erzählte einige drollige Beispiele, über die sie beide lachen mussten.
Evelyn mochte den Mann. An jeder Schulfeier nahm er teil, fotografierte die Kinder, schleppte Kisten mit Brause an, spendete bei jeder Sammlung, ob es um Jugendherbergsgroschen oder das Rote Kreuz ging.
Zweimal war er zum Elternvertreter gewählt worden, und alle waren erfreut, dass er die Wahl angenommen hatte, denn sie wussten, dass er als Bankdirektor sehr beschäftigt war. Dennoch machten er oder seine Frau jeden Ausflug mit. Meistens sogar beide. Sie organisierten Spiele und ließen ihre Kleine dabei keinen Augenblick aus den Augen. Wirklich vorbildlich, wie sie sich für das Kind engagierten.
Jetzt taten sie Evelyn fast leid: Sicher war es zu Hause nicht sehr leicht mit ihrer eigenartigen Tochter. Auf ihren Vorschlag, mit Angela zu einem Schulpsychologen zu gehen, reagierte der Mann zögernd. Er wollte erst
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