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Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)

Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)

Titel: Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Fröhling
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anderen Situationen bereit sich zurückzuhalten, ließen die Erwachsenen auch ihr Leben leben.
    Eine Niederlage nach der anderen hatte Nina heute einstecken müssen beim Tischfußball gegen den kleinen Hasso, der zum ersten Mal in seinem Leben etwas anderes spürte als Verachtung und Schmerz. Zwar war er immer noch stumm wie damals, als die Männer ihn an einer Hundeleine über den Betonboden gezerrt hatten, aber beim Spiel mit Nina strahlte er vor Freude über seine Geschicklichkeit und seine Siege. Seine Bewegungen hatten etwas Besonderes, ganz anders als die der anderen Kinder. Hochkonzentriert starrte er auf den winzigen Fußball, die Augen glänzten, aufgeregt hüpfte er auf seiner Seite umher, und sein Mund war leicht geöffnet, die Winkel zu ständigem Lächeln emporgezogen.
    Während dieses Spiels hatte es mehr als einen Switch gegeben: Etliche Kindpersönlichkeiten hatten sich abgewechselt, denn sie alle wollten mit Nina spielen.
    Zwischen zwei Spielen war Lena aufgetaucht, voll Mitgefühl mit Nina, die haushoch verlor, und mit dem Vorschlag an die anderen, Nina doch mal gewinnen zu lassen.
    »Untersteht euch!«, hatte Nina lachend gerufen, »ich will nur mit meiner eigenen Leistung gewinnen.«
    Lerneffekt: Auch Erwachsene können verlieren. Sie können lachend verlieren. Sie können verlieren, ohne sich an den Kindern zu rächen. Kinder können siegen. Sie dürfen sich über ihre Siege freuen. Sie dürfen triumphieren.
    Nina therapierte also Erwachsene, Jugendliche und Kinder gleichermaßen. Sie machte Spieltherapie mit den Kindern, beobachtete ihr Verhalten, ging auf sie ein, unterstützte ihre Entwicklung. Dieses Vorgehen entsprach dem Konzept, alle Persönlichkeiten gleichermaßen wahrzunehmen, sie in ihrer Individualität zu achten, ihre persönlichen Geschichten ernst zu nehmen und auf ihre Bedürfnisse, wenn möglich, einzugehen. Ein Konzept, das sich in vielen Therapien Multipler Persönlichkeiten als erfolgreich erwies – während die andere Strategie, sich nur auf jene erwachsene Persönlichkeit zu beziehen, die anfangs in Therapie gekommen war, alle anderen aber zu ignorieren, schon zu vielen Katastrophen führte. 38
    Diese Folgen lassen sich erahnen, wenn man sich vor Augen führt, dass der Therapeutin anfangs meist eine kompetente, sachliche, gut organisierte junge Frau gegenübertritt. Sie hat die Adresse der Therapeutin herausgefunden, hat keine Angst, ihr zu begegnen, und bringt das Persönlichkeitssystem sicher in die Praxis. Dann sitzt sie da und hat zur Sache selbst meist wenig zu sagen. Der Preis für ihre Effektivität ist nicht selten ein Mangel an Gefühlen. Gefühle, Erinnerungen, Traumata tragen andere. Häufig wagen diese anderen sich nur zaghaft nach draußen. Sie prüfen die Therapeutin genau – auch Nina Temberg fühlte sich anfangs geprüft und getestet –, dann erst geben sie sich zu erkennen. Wenn man sie jetzt zurückweist, verliert man sie. Und verspielt vielleicht die Chance, das Spektrum an Gefühlen, die Vielfalt an Wahrnehmungsfähigkeit zu entdecken, die sich hinter der coolen, beherrschten jungen Frau verbergen, die nur einen kleinen Teil aus dem Gesamtsystem darstellt und manchmal selbst keinen Schimmer hat, was sie alles noch in sich birgt.
    Ein Therapeut, eine Therapeutin, die sich darauf beschränken, allein diese Frau zu therapieren, drängen die anderen zurück in den Untergrund. Möglicherweise haben sie es mit diesem reduzierten »Alter Ego« leicht, weil es im Alltag relativ gut funktioniert, aber sie opfern ihm den menschlichen Reichtumeines vollständigen Individuums. Außerdem wird es der Klientin wahrscheinlich nicht besser gehen, und wenn sie gut organisiert und nicht von der Therapeutin abhängig ist, wird sie die Therapie abbrechen.
    Während Nina in die geräuschlos fallenden Schneeflocken schaute und sich hin und wieder Notizen machte, dachte sie über die heutige Sitzung mit Angela Lenz nach. Dieser Tag hatte nicht nur Spiele, sondern auch ernsthafte Arbeit gebracht.
    Heute hatte sie zwei Persönlichkeiten von Angela Lenz miteinander bekannt gemacht, die sich bisher noch nicht begegnet waren, aber schon lange voneinander wussten und eine ganz besondere Beziehung zueinander hatten: die dreizehnjährige Stefanie und die dreißigjährige Traute. Als Stefanie im Alter von dreizehn Jahren in ihrer Vorstellung im Grab des Vaters verschwunden war, war Traute entstanden und hatte weitergelebt. Sie waren sozusagen zwei Hälften, Anfang und Ende einer

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