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Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)

Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)

Titel: Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Fröhling
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Person.
    Der Begegnung vorausgegangen war ein langes Gespräch mit Traute, das noch in Nina nachwirkte.
    »Wenn mir das so bewusst wird«, hatte Traute zu Beginn der Therapiestunde gesagt, an ihrer Zigarette gezogen – als Einzige genoss sie das Privileg, hin und wieder im Therapieraum rauchen zu dürfen –, den Rauch ganz langsam an die Decke geblasen und eine so lange Pause gemacht, dass Nina schon meinte, sie müsste vergebens auf das Ende des Satzes warten.
    Aber Traute hatte wieder angesetzt:
    »Wenn mir das bewusst wird, dass es keine einzige Stelle an meinem Körper gibt, die nicht von irgendeinem Menschen zu irgendeiner Zeit gegen meinen Willen, ohne mein Wissen, mit Gewalt missbraucht worden ist.«
    Dann hatte sie lange aus dem Fenster geschaut.
    »Keine einzige Stelle.«
    Nina Temberg hätte ihre Klientin am liebsten in den Arm genommen, damit sie weinen konnte.
    »Wenn mir das so richtig bewusst wird, dann will ich nicht mehr leben.«
    Aber das konnte Traute nicht allein entscheiden, sie war nur ein Teil einer großen Gruppe, und alle hatten eine individuelle Vorstellung über sein oder ihr Leben. Schon vor vier Jahren, gleich zu Beginn der Therapie, hatte Nina verschiedene Verträge mit Angela Lenz abgeschlossen. Es gab Gewaltverzichtsverträge – Gewalt gegen andere und Gewalt gegen sich selbst –, und es gab auch einen Anti-Selbstmordvertrag. Sie hatte ihrer Klientin einen Vertragsentwurf vorgelegt, nach dem Selbstmord nur durchgeführt werden durfte, wenn alle Personen damit einverstanden wären. Die meisten hatten sich geweigert, das zu unterschreiben und selbst eine modifizierte Version erarbeitet: Zwei Drittel aller Persönlichkeiten mussten mit dem Entschluss einverstanden sein. Außerdem durften sie so lange nichts unternehmen, bis alle, nicht nur einige, mit ihrer Therapeutin darüber geredet hatten. Das Gesamtsystem, wie sie es nannten, musste also mit Nina gesprochen haben. Und zwar nicht am Telefon, nicht per Brief, sondern ganz persönlich.
    Alle erreichbaren Personen von Angela hatten diese Version damals unterschrieben. Trotzdem kam es immer wieder vor, dass Einzelne nicht mehr leben wollten. Besonders Traute fragte sich oft nach dem Sinn. Von allen Persönlichkeiten verfügte Traute über das breiteste Spektrum an Gefühlen, seelischen wie körperlichen. Sie hatte die tiefste Empfindungsfähigkeit und spürte die meisten Schmerzen: Kopfschmerzen, Bauchweh 39 , Unterleibsbeschwerden, Entzündungen waren nur einige davon.
    Lange Zeit waren Nina, Traute und Sarah fest davon überzeugt, dass es sich bei diesen Schmerzen ausschließlich um Körpererinnerungen an erlebte Traumata handelte.
    Da Traute am tiefsten und stärksten fühlte, war sie auch am häufigsten depressiv. Zusammen mit Co-Therapeutin Sarah hatte Nina daher überlegt, ob Traute vielleicht eine Integration mitStefanie versuchen sollte. Die jüngere Stefanie hatte so viel mehr Lebensmut, dass es logisch schien.
    Die Integration, das Zusammenfügen aller Persönlichkeiten zu einem Individuum mit einem einzigen Ich-Bewusstsein ist das offizielle Ziel bei der Therapie Multipler Persönlichkeiten. In vielen Fällen ist es aber nur das Ziel der Therapeuten, nicht das der Klientinnen. Für einzelne Persönlichkeiten bedeutet es das Aufgeben ihrer spezifischen Existenz, viele setzen es mit Sterben gleich, für sie fühlt es sich an, als sollten sie in ihren eigenen Tod einwilligen. Natürlich weigern sie sich.
    Für die sogenannte Gastgeberpersönlichkeit aber erscheint es auf den ersten Blick äußerst erstrebenswert: Endlich würde sie die ständige Kontrolle über ihr Leben bekommen.
    Anfangs war das auch Trautes größter Wunsch gewesen: dass die anderen endlich weggehen und sie nicht dauernd daran hindern, ihr eigenes Leben zu leben. Für diese aber bedeutete das eine schwere Kränkung: Schließlich existierten sie nur, weil Traute – und vor ihr Stefanie – das Leben, so wie es war, nicht ertragen hatten. Sie hatten den beiden die Last abgenommen, all die Jahre hindurch, hatten nur gelitten, und jetzt sollten sie plötzlich verschwinden? Jetzt, wo das Leben vielleicht auch etwas anderes bieten würde als Leid, sollte Schluss sein?
    Integration war also ein Thema, das großen Raum einnahm in der Therapie.
    Irgendwann ging Traute auf, dass Integration auch bedeuten würde, den gesamten Überblick über ihre Vergangenheit zu bekommen. Und alle damit verbundenen Gefühle. Alle Erinnerungen, die bisher auf viele Persönlichkeiten

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