Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
mit seiner Frau darüber sprechen. Das war verständlich. Allerdings erhoffte sich Evelyn von einem oder mehreren solcher Gespräche einen leichteren Umgang mit dem Mädchen, und daher nannte sie auch gleich Namen, Adresse und Telefonnummer der zuständigen Erziehungsberatung. Das leuchtete ihm ein, er notierte alles, sagte aber auch, dass er möglicherweise einen eigenen Therapeuten hinzuziehen wollte.
Auf alle Fälle wollte er seine Tochter einige Tage zu Hause behalten, damit er und seine Frau sich um die Probleme der Kleinen kümmern konnten. Falls sie wirklich Probleme hätte. Das fand Evelyn Keller allerdings ein wenig übertrieben, aber er meinte, er würde es schon mit dem Direktor regeln. Es würde in Ordnung gehen. Bei aller Launenhaftigkeit war Angela eine gute Schülerin. Sie fehlte zwar öfter, schien aber nichts zu versäumen.
Nach dem Gespräch war Evelyn ziemlich beruhigt. Die Sache war bei den Eltern in guten Händen. Bestimmt.
Und nun begann endlich das Wochenende.
Als Evelyn den Hörer auflegte, drückte Angela zu Hause auf den Klingelknopf. Ihre Haare waren noch nass, denn sie hatte sich nur oberflächlich abgetrocknet, weil sie schnell nach Hause wollte. Im Brustschwimmen war sie Beste geworden. Das wollte sie dem Vater erzählen. Papi wird sich freuen.
Wenn du dich mal nicht irrst. Vielleicht hat sie angerufen.
Sie freute sich auf ihren Vater. Er war immer nett und lieb zu ihr. Aber sie hatte auch Angst vor ihm. Das war merkwürdig, denn er hatte ihr nie etwas getan. Es dauerte eine Weile, dann näherten sich die Schritte der Mutter. Etwas war passiert. Das hörte Angela an den Schritten.
Die Mutter öffnete die Tür und lächelte. Sie sagte kein Wort. Angela trat ein. Was war los? Etwas stimmte nicht. Die Atmosphäre. Die Geräusche. Wie lächelt die Mutter? Vorsichtig sein.
»Nun, dann wollen wir essen«, sagte die Mutter und ging voran ins Speisezimmer. Dort saß schon der Vater. Er lächelte ebenfalls. Was ist los? Hat sie angerufen? Vorsichtig ging Angela ins Zimmer, schob leise den Stuhl zurück und setzte sich zur Familie an den Tisch.
»Was sind denn das für neue Sitten?«, fragte die Mutter, »willst du dir denn nicht die Hände waschen?«, und gab ihrerTochter eine Ohrfeige. Angela lief in das Bad, um sich die Hände zu waschen.
Dann aßen sie schweigend. Nichts verschütten. Kein Geräusch machen. Nicht mit dem Löffel auf den Tellerboden kommen. Aufrecht sitzen.
Der Bruder grinste. Was wusste er?
Der Magen saß Angela im Hals. Sie musste das Essen gewaltsam nach unten pressen.
»So«, sagte die Mutter, als alle fertig waren, »dann kannst du jetzt abräumen.«
Als Angela wieder ins Speisezimmer kam, saßen sie alle um den Tisch herum. Sie lächelten.
»Setz dich, Angela«, sagte die Mutter. »Hast du uns nicht etwas zu erzählen?«
Angela schwieg. Was sollte sie erzählen? Die Atmosphäre von Angst und Gefahr hatte schnelle Persönlichkeitswechsel ausgelöst. Die Person, die vielleicht etwas hätte erzählen können, war längst verschwunden. Was wollte die Mutter wissen? Sie würde alles sagen, was sie konnte. Aber sicher war es wieder das Falsche. Sie schwieg.
»Hast heute mit deiner Lehrerin gesprochen, hm?«, sagte die Mutter.
Der Vater sagte gar nichts.
Sie hat angerufen! Sie wird uns helfen!
Seid ihr blöd? Sie hat uns verraten! Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt den Mund halten!
»Na, der haben wir aber mal erzählt, was du für ein Früchtchen bist«, lachte die Mutter, »Lügnerin, böses Kind, verdorbene kleine Hexe. Bei der kannst du dich nicht mehr blicken lassen, du Satansbraten.«
Der Vater stand auf und ging ins Kinderzimmer. Er sagte kein Wort.
»Na los«, sagte die Mutter. »Geh, hol dir deine Strafe ab.« Der Bruder feixte.
Angela stand auf und ging in ihr Zimmer.
Dort saß der Vater schon auf dem Bett. Er sagte kein Wort. Blickte sie an. Ging zum Schrank und holte den Stock. Schweigend.
Schnell zog das Mädchen alle Kleider aus. Sie fürchtete diesen Mann sehr. Von ihm kam nur Schlechtes, nie Gutes. Aber man konnte sich nicht gegen ihn wehren. Sie legte sich aufs Bett, und er begann sie zu schlagen. Immer heftiger, bis ihr das Blut die Beine hinablief. Sie weinte nicht.
Bei Evelyn Keller klingelte es. Sie lief zur Tür und ließ die ersten drei Kollegen herein. Jürgen Herzog, mit dem sie zusammen studiert hatte, drückte ihr einen Blumenstrauß in die Hand. Rosa Nelken. Wie albern. Er hatte nie aufgehört, sich um sie zu bemühen.
Weitere Kostenlose Bücher