Vater unser
distanzieren», sagte Julia leise.
« Vor allem von solchen Kindern.» Lat schüttelte den Kopf.
« Und jetzt? Rückwärtsgang? Der hochbezahlte Anwalt? Der Anruf bei der französischen Botschaft? Die Pressekonferenz?»
« Sie haben sich wohl gedacht: Angriff ist die beste Verteidigung. Und was die Unterstützung für unseren Kandidaten angeht», sagte sie schulterzuckend, « vielleicht haben sie ein schlechtes Gewissen, weil sie den ersten alleingelassen haben.»
« Vielleicht. Haben Sie zufällig Psychologie studiert?», fragte Lat.
« Nein. Wieso?»
« Nur so eine Frage. Was meinen Sie, was das mit den Zwillingen zu bedeuten hat?»
« Vielleicht hat Dave sich über die Jahre Notizen gemacht, damit er weiß, wie man den Irren mimt», schlug Brill vor.
« Oder die Kinderstube hat sie beide in den Wahnsinn getrieben.»
« Man weiß nicht, wie Schizophrenie entsteht, aber es gibt eine genetische Disposition», sagte sie langsam. Sie erinnerte sich an ihre Lektüre.
« Eineiige Zwillinge haben die gleiche DNA. Wenn einer von beiden die Krankheit hat, ist das Risiko groß, dass der andere auch erkrankt. Ich glaube, die Chance liegt bei fast dreißig Prozent oder so etwas. Also, ja – wahrscheinlich hat es was zu bedeuten. Zumindest für den vom Gericht bestellten Psychiater. Gibt es noch andere Fälle von Geisteskrankheiten in der Familie?»
« Das wird ein Problem», sagte Brill seufzend.
« Nicht nur, weil Mom und Dad und der Rest der Sippschaft nicht kooperieren.»
« Wieso?»
« Wie gesagt, der Fall steckt voller Überraschungen», sagte Lat.
« Es gibt keine bekannten Blutsverwandten, Julia. Darrell und David sind adoptiert.»
KAPITEL 44
D ER GLEICHE Körper, zwei vollkommen unterschiedliche Menschen. Die gleiche Geschichte, zwei vollkommen unterschiedliche Deutungen. Julia musste den Fernseher nicht anstellen, um zu wissen, wie Mel Levenson bei der Pressekonferenz sein Schlussplädoyer schmiedete. Sie spülte das letzte Stück Cannoli mit einem Schluck war mer Diet Coke hinunter, während sie durch die beunruhigenden Polizeiberichte, Verhöre und Krankenakten blätterte, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten. Bei Serienverbrechen arbeitete die Polizei häufig mit Profilern, die, um einem Vergewaltiger oder Mörder auf die Spur zu kommen, aus psychologischen Komponenten mögliche Verdächtige zusammensetzten. Wie auf einem Foto im Entwicklerbad begann der Hintergrund von David Marquettes Leben langsam schärfer zu werden, und im Vordergrund kam ein verschwommener Fremder zum Vorschein, der sich im Schatten versteckte. Die Details lasen sich wie der Steckbriefeines Profilers. Männlicher Weißer, 25-45 Jahre alt, durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent, wahrscheinlich gebildet und in einem hochriskanten Berufsfeld tätig Hat ein Problem mit Beziehungen, insbesondere zu Frauen. Dominante Mutter. Hat in der Jugend möglicherweise Tiere gequält. Drogenmissbrauch, wenig Freunde. Sie drehte den Stuhl zum Fenster und blickte über die Luftschächte hinweg zum Gefängnis auf der anderen Straßenseite. Irgendwo hinter den Eisengittern und dem Stacheldraht saß ihr Angeklagter, weggeschlossen von der Öffentlichkeit auf den von Schreien erfüllten Fluren des achten Stocks. Wo die Irren saßen. Die gleiche Geschichte, zwei vollkommen unterschiedliche Deutungen. Ein Junge, der sich von Anfang an nicht anpassen konnte: Einzelgänger. Außenseiter. Verlierer. Ein Kistenteufel mit einem eineiigen Zwillingsbruder, der ihm alles andere als ähnlich war. Der eine war perfekt. Perfekte Noten, perfekte Persönlichkeit. Gewinnt Sportwettkämpfe und Stipendien und hilft gebrechlichen alten Damen über die Straße. Geht mit Cheerleadern und Schönheitsköniginnen aus und macht Mutter und Vater sehr stolz. Der andere driftet immer mehr ab. Er beginnt, sich auffällig zu verhalten. Quält Tiere, um zuzusehen, wie sie leiden. Experimentiert mit Drogen. Fällt in der Schule durch. Wenn er nicht sein kann wie sein Bruder, dann ist er eben das Gegenteil. Während der perfekte Bruder erwachsen und immer perfekter wird und die lange Liste seiner Leistungen immer länger, geht es mit dem Außenseiter immer mehr bergab. Mehr Drogen. Die Gewalt eskaliert jetzt auch gegen Menschen. Er konzentriert sich auf das Objekt seines Zorns und versucht, seine Mutter umzubringen. Er fliegt von der Schule. Immer wieder muss Dad ihn aus dem Dreck ziehen. Dad kümmert sich auch um die Polizeiberichte und Zulassungspapiere der Unis, damit
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