Vater unser
niemand den
« falschen Eindruck» von der Familie mit dem guten Namen und dem dicken Konto bekommt. Er ist ganz und gar nicht wie sein Bruder. Er ist eine traurige, bittere Enttäuschung. Doch dann wird der perfekte Bruder krank. Ausgerechnet die Mutter aller schlimmen Krankheiten. Die, für die man sich am meisten schämen muss: Schizophrenie. Der perfekte Bruder fällt in Ungnade, und er fällt hart. Plötzlich ist er es, den Mom und Dad verstecken wollen. Und Dad schiebt den Außenseiter in die Rolle des Thronfolgers. Er boxt ihn durchs Studium, besorgt ihm einen Titel und einen guten Job. Der Außenseiter leitet plötzlich eine Arztpraxis und ist ganz offiziell auf der Sonnenseite. Und doch tickt eine Zeitbombe hinter dieser perfekten Fassade. Sie tickt lautlos und gemütlich vor sich hin, unbemerkt von einer klammernden Frau und drei Kindern, bis sie irgendwann einfach explodiert. Aber die gleichen Fakten könnten eine ganz andere Geschichte erzählen; der gleiche Pinsel könnte ein viel tragischeres Bild malen – das eines Jungen, der immer ein bisschen komisch war, der Schwierigkeiten hatte, sich anzupassen, obwohl er es versucht hat. Weil er wie sein Bruder eine heimtückische Krankheit im Kopf hatte, die leise voranschritt und auf ihrem Weg Synapsen auslöschte und heimlich Bilder und Stimmen säte, die wie Landminen seine Seele zerstörten. Alles war so unheimlich echt, dass sein Gehirn sich von den Halluzinationen täuschen ließ. Hauchdünne Schicht für Schicht zerfraß die Krankheit den Jungen schließlich, langsam und von innen, bis nur noch die Hülle intakt war, während seine verängstigten Adoptiveltern wissentlich alle Warnzeichen ignorierten, weil sie gegen alle Wahrscheinlichkeit hofften, dass das Leiden ihres Sohnes keine Geisteskrankheit sein möge. Alles, nur nicht diese grässliche Krankheit. Und selbst, als es zur Eskalation kommt, wird die Diagnose nicht akzeptiert. Dem guten Namen der Familie zuliebe wird sie geändert. Und als den eineiigen Zwillingsbruder zwei Jahre später das gleiche Schicksal ereilt, wird er zunächst zu Hause weggeschlossen, dann in eine Anstalt geschickt, ohne jemals wieder aufzutauchen. Aber das Leiden dieses Bruders ist viel schlimmer, viel zerstörerischer, und unser Junge ist anscheinend längst genesen von dem Einbruch, den er im College hatte. Schwache Nerven. Stress. Jetzt geht es ihm gut, sagt sich die Familie wieder mit gedämpftem Flüstern. Doch es ging ihm nicht gut. Der Junge mit der unaussprechlichen Krankheit war krank. Wegen des Stigmas und der Scham wurde ihm die Hilfe verwehrt, die er all die Jahre gebraucht hätte, und jetzt waren vier Menschen tot.
« Die Welt kann fröhlich und bunt sein oder deprimierend und grau. Es hängt nur davon ab, wie du sie anschaust», hatte Julias Mutter immer gesagt.
« Du suchst dir die Brille aus, durch die du sie siehst.» Der gleiche Körper, zwei vollkommen unterschiedliche Menschen. Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Wer war David Alain Marquette?
KAPITEL 45
B ITTE SAG MIR, dass dieser Typ nur simuliert, Chris», sagte Rick Bellido mit einem charmanten Lächeln, als er und Julia der hübschen jungen Sekretärin in ein Sprechzimmer folgten, das sehr viel schicker war, als Julia es bei einem Psychiater, der als Berater auf der Gehaltsliste der Staatsanwaltschaft stand, erwartet hätte. Flaschengrüne Wände, Designermöbel und eine feine Adresse auf der vornehmen Brickell Avenue – die Geschäfte in Dr. Christian Barakats Privatpraxis schienen glänzend zu laufen. Die forensische Psychiatrie war offensichtlich nur ein Nebenerwerb. Auch der große attraktive Mann, der jetzt aufstand und ihnen entgegenkam, sah ganz anders aus, als Julia es von einem Psychiater erwartet hätte. Dunkles Haar, markantes Kinn, unglaublich blaue Augen – er hätte Christopher Reeve in Superman doubeln können. Kein Wunder, dass die verzweifelten Hausfrauen ihm die Türen einrannten.
« Hallo, Ricky», sagte er und schüttelte Rick die Hand. Sein perfektes Lächeln wurde von tiefen Grübchen gerahmt.
« Schön, Sie kennenzulernen, Julia.»
« Danke, ganz meinerseits», erwiderte sie.
« Bitte, setzt euch. Kaffee?»
« Nein danke. Wir kommen gerade vom Mittagessen. Julia hilft mir in diesem Fall, und da kam mir die Idee, schnell bei dir reinzuschauen und gute Nachrichten abzuholen», sagte Rick.
« Was sagst du also zu Marquette? Hast du den Bericht schon fertig?»
« Ariana wollte ihn gerade per Kurier schicken. Sie ist eben mit dem Abtippen
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