Vater unser
Patienten eine Körperhaltung auferlegen, und er behält diese nicht selten über Stunden bei. Das sind Merkmale, die kaum einem Laien bekannt sind. Ich habe bei Marquette jedoch keines dieser Symptome beobachtet. Als ich seinen Arm über seinen Kopf hob, ließ Marquette ihn gleich wieder fallen und achtete dabei sorgfältig darauf, dass er weder sein Gesicht noch die Tischplatte berührte. Katatone Patienten ziehen sich meist vollkommen in eine eigene Welt zurück. Marquette hingegen ist eindeutig im selben Raum und beobachtet mit starrem Blick, wie man ihn beobachtet. Er wartet auf die Reaktion seines Gegenübers, um seine darauf abzustimmen.»
« Hat er irgendetwas gesagt?», fragte Julia.
« Ja, auch wenn er meine Fragen sehr einsilbig beantwortet hat. Wie ich schon sagte, ich hatte das Gefühl, dass er mich ganz genau beobachtet, und ich glaube, er hat gemerkt, dass mich seine Vorstellung nicht überzeugt.»
« Hat er sich zu den Morden geäußert?»
« Nicht direkt. Aber er weiß, warum er verhaftet wurde und welche Strafe ihn erwartet. Er weiß, dass seine Familie tot ist. Kurz gesagt: Wenn seine Medikation besser eingestellt wird, ist er meiner Ansicht nach absolut prozessfähig.»
« Wie passt Darrell, der Zwillingsbruder, ins Bild?», fragte Rick.
« Interessante Frage», erwiderte Dr. Barakat und runzelte die Stirn.
« Auch wenn man bisher nur wenig über die Ursachen von Schizophrenie weiß, ist sich die Fachwelt einig, dass die Gene eine große Rolle spielen. Marquettes schizophrener Zwillingsbruder ist ein gefundenes Fressen für die Verteidigung und hat Koletis’ Beurteilung mit Sicherheit beeinflusst. Jahrzehntelang ging man davon aus, dass Schizophrenie durch das Elternhaus ausgelöst wird, genauer gesagt durch die Mutter. Man glaubte, dass übertrieben fürsorgliche, überängstliche, herrschsüchtige Mütter gestresste, psychotische Kinder erschaffen, die nicht mit der Realität zurechtkommen. Interessanterweise waren die Anhänger Sigmund Freuds die glühendsten Verfechter dieser Theorie, obwohl Freud selbst sich niemals mit Schizophrenie auseinandergesetzt hat. Seine Anhänger nahmen die Freud’sche Psychoanalyse als Basis – traumatische Kindheitserlebnisse werden verdrängt und beeinflussen aus dem Unbewussten heraus unser Verhalten als Erwachsene – und wandten sie einfach auf Patienten mit Schizophrenie an. Heutzutage wissen wir jedoch, dass Schizophrenie eine Krankheit ist, bei der sich die Struktur des Gehirns verändert. Kernspintomographien lassen sich zwar nicht als diagnostische Werkzeuge gebrauchen, um Schizophrenie nachzuweisen, aber MRT-Studien haben bei einigen männlichen Schizophrenie-Patienten eine Vergrößerung der Ventrikel sowie einen Rückgang der grauen Hirnsubstanz und regionale Volumenveränderungen im Frontalhirn, im temporalen limbischen System und im Thalamus gezeigt. Die Ursache für diese Veränderungen ist bisher ungeklärt. Vermutungen reichen von Viruserkrankungen über Lebensmittelallergien, neurochemische Defizite, Infektionen oder physische Traumata im Mutterleib bis hin zu Störungen im endokrinen System.» Rick verzog skeptisch das Gesicht, doch er schwieg.
« Bei alldem darf man den genetischen Faktor nicht außer Acht lassen», fuhr Dr. Barakat fort.
« Mit jedem Familienmitglied, das von der Krankheit betroffen ist, steigt das Risiko für die anderen an. Bei jemandem, in dessen Familie es noch keinen Fall von Schizophrenie gegeben hat, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass er daran erkrankt, ein Prozent. Wenn ein Elternteil schizophren ist, ist die Wahrscheinlichkeit beim Kind dreizehnmal höher, bei beiden Elternteilen steigt sie auf sechsunddreißig Prozent. Und bei eineiigen Zwillingen liegt die Wahrscheinlichkeit bei dreißig Prozent, selbst wenn die Zwillinge direkt nach der Geburt getrennt wurden und in verschiedenen Elternhäusern aufgewachsen sind. Das Risiko steigt proportional an. Wenn Schwester, Mutter und Großmutter an Schizophrenie leiden, ist das Risiko zu erkranken sechsundzwanzigmal höher als beispielsweise bei Ihnen oder mir. Margaret Mary Ray, von der ich Ihnen eben erzählt habe, ist ein klassisches Beispiel dafür. Zwei ihrer drei Brüder waren schizophren und begingen Selbstmord, genau wie Margaret Mary, die sich 1998 vor einen Zug warf. Bisher ist noch nicht erforscht, ob der Krankheit ein Gendefekt zugrunde liegt oder ob die Gene nur für eine Disposition sorgen. Klar ist lediglich, dass Schizophrenie offenbar in der Familie
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