Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
Vom Netzwerk:
weiß ich, was der wirkliche Grund dafür war», sagte Julia.
« Es gab schon erste Anzeichen, bevor er aufs College ging. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er war manchmal so distanziert und kalt und irgendwie abwesend. Dabei hatten wir uns doch immer gut verstanden – er war nicht nur mein Bruder, sondern auch mein bester Freund. Aber dann begann er, sich von mir zu entfernen. Er zog sich in sein Zimmer zurück und ließ mich nicht mehr hinein. Er hat mich einfach nicht mehr hineingelassen.» Nora starrte Julia an wie eine Fremde, deren Sprache sie nicht verstand.
« Vielleicht war es nicht seine Schuld. Vielleicht hatte er keine Wahl. Weil es die Krankheit war. In seinem Kopf. Eine Krankheit, die nach und nach sein Gehirn auffraß.» Dann brach Nora mit kalter, ruhiger Stimme ihr Schweigen.
« Du hast recht. Es war nicht allein Andrews Schuld. So sehr ich deinen Bruder für das hasse, was er getan hat – man sollte die Schuld da suchen, wo sie entstanden ist. Bei demjenigen, durch den sie entstanden ist. Aber er ist nicht mehr unter uns, daher sehe ich darin keinen großen Sinn.» Julia hatte das Gefühl, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen.
« Wovon redest du?», fragte sie gepresst, während tief in ihrem Inneren bereits die Alarmglocken schlugen. Sie ahnte, was ihre Tante gleich sagen würde, und wollte doch nicht, dass sie es aussprach. Bitte, bitte, bitte, ich will es nicht wissen ... Noras Wut war verebbt. Sie wirkte auf einmal nur noch erschöpfe und traurig.
« Es war dein Vater, Julia», sagte sie.
« Verstehst du? Dein Vater hat diese – Krankheit, wie du es nennst, in unsere Familie gebracht und an seinen Sohn vererbt. Dein Vater hatte sie auch.»
KAPITEL 60

PLÖTZLICH ERGAB alles einen Sinn. Die Puzzleteile ihrer Kindheit, die vorher nie gepasst hatten, fügten sich nun wie von selbst zusammen. Jede Erinnerung rührte zu einer weiteren und zwang Julia, tiefer in die unbekannte Dunkelheit vorzudringen. In den ersten dreizehn Jahren ihres Lebens hatte ihre Mutter offenbar alles getan, um ein normales Familienleben vorzutäuschen. Und in den darauffolgenden vierzehn Jahren hatten Nora und Jimmy ihr Bestes gegeben, dieses Trug— bild aufrechtzuerhalten. Um Julia zu schützen, hatten sie so getan, als hätte jene Nacht nie stattgefunden. Julia hatte sie gewähren lassen, zum Teil, weil sie keine Wahl gehabt hatte, zum Teil aber auch, weil es so weniger schmerzhaft war. Ein anderer Wohnort, ein neuer Name, eine neue Identität, und keine Fragen, die beantwortet werden mussten. Sie hatte den Namen Valenciano angenommen, damit die Eltern ihrer neuen Schulkameraden ihren Kindern nicht erzählen konnten:
« Diese Julia hat einen verrückten Bruder, der ihre Eltern umgebracht hat! Halte dich von ihr fern!» Direkt nach der Beerdigung hatte Tante Nora alle Fotos von Andrew weggeworfen, und seitdem war nie wieder über ihn gesprochen worden. Julia war ihre Nichte, deren Eltern bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben gekommen waren. Andrew hatte nie existiert. Jetzt setzte sich Julia an den Küchentisch und starrte auf ihren Schoß.
« Wann ging es bei Vater los?», fragte sie. Nora senkte den Blick.
« Ich habe schon genug gesagt. Reenie war eine Heilige, sie hat dich gut erzogen und die Arbeit von beiden Elternteilen geleistet.»
« Wann, Tante Nora? Wann?» Nora wandte sich ab. Bis zu der Mordnacht hatte Julia ihre Familie für so normal gehalten wie die Musemecis, die mit ihren zwölf Kindern am anderen Ende der Straße wohnten. Doch normal war ein relativer Begriff. Wenn man in einer zerrütteten Familie aufwächst, betrachtet man dies als normal, weil man es nicht anders kennt. Eine geschlagene Frau glaubt, dass alle Männer ihre Frauen schlagen, ein Kind, das sexuell missbraucht wird, hält es für normal, dass sein Vater nachts in sein Bett schlüpft. Erst wenn man ausbricht und das eigene Leben von außen betrachtet, erkennt man, wie es wirklich ist. Julia hatte den Eindruck, als wäre ein Schleier gelüftet worden, sodass sie einen Blick hinter die Kulissen werfen konnte. Sie erinnerte sich daran, dass sie zusammen mit Andrew eine Zeit lang auf der Farm ihrer Großmutter in Hunter Mountain gelebt hatte. Damals war sie sechs und Andrew zehn Jahre alt gewesen. Sie waren dort sogar zur Schule gegangen. Ihre Mutter hatte ihnen erzählt, ihr Vater sei bei der Renovierung des Wohnzimmers von der Leiter gefallen, hätte sich dabei den Arm gebrochen und müsse sich nun erholen. Aber

Weitere Kostenlose Bücher