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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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war etwas in ihr kaputtgegangen, dachte sie. Vielleicht würde sie nie mehr aufhören können damit. Regen prasselte auf die Windschutzscheibe, er wurde von dem stürmischen Wind gegen das Auto gepeitscht. Selbst mit eingeschalteten Scheinwerfern konnte man nur ein paar Meter weit sehen, und der Verkehr war beinahe zum Stillstand gekommen. Vielleicht hätte sie beim Flughafen anrufen und nachfragen sollen, ob sich ihr Flug verzögerte oder gar ganz gestrichen worden war. Sie hatte einen Platz in der letzten Maschine ergattert und daraufhin schnell ein paar Sachen zusammengepackt und Moose bei einer Hundebetreuung in der Nähe abgegeben. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun würde, wenn sie in New York aus dem Flieger stieg. Aber wenn sie zu lange nachdachte, würde sie vielleicht gar nicht erst hinfliegen. Es gab noch so viele Erinnerungen, die sie verarbeiten rnuss-te. So viele Dinge, die in Wirklichkeit vielleicht ganz anders gewesen waren, als sie sie in Erinnerung hatte. Es war, als würde man unversehens herausfinden, dass der Weihnachtsmann nicht existierte. Eine kleine und doch so bedeutsame Tatsache veränderte plötzlich alles und zwang einen, jedes einzelne Weihnachtsfest noch einmal zu überdenken. Allerdings hatte Julia nicht bloß herausgefunden, dass es den Weihnachtsmann nicht gab. Nein, ihr ganzes Leben war eine Lüge gewesen. Sie drehte das Radio lauter, um sich von ihren Gedanken abzulenken. Falls sie irgendwann anfing, Stimmen zu hören – würde sie dann wissen, ob sie echt waren oder nicht? Würde sie den Unterschied zwischen einem Radiomoderator und einem Phantom erkennen? Sie fühlte sich unglaublich allein. Allein mit den Geheimnissen, die niemand je erfahren durfte. Niemand wollte mit dem Mädchen befreundet sein, dessen Bruder die eigenen Eltern umgebracht hatte. Ihre alten Freunde hatten direkt nach der Beerdigung den Kontakt abgebrochen. Sogar Carly. Also hatte sie fortan ihre Vergangenheit verschwiegen oder Lügen erzählt, wenn sie jemanden kennenlernte, egal, ob es sich dabei um neue Freunde, Lehrer, Dozenten oder Vorgesetzte handelte. Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich bin bei meiner Tante und meinem Onkel aufgewachsen. Ich habe keine Geschwister. Sie hatte diese Lügen so oft erzählt, dass sie manchmal selbst daran glaubte. Andrews hübsches junges Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Seine milchweiße Haut, eingerahmt von dunklen Locken. Die neckischen Grübchen, wenn er lächelte. Auf sie hatte er niemals böse gewirkt, noch nicht einmal in der Mordnacht, als das Blut ihrer Eltern an ihm klebte. Er war damals kaum achtzehn Jahre alt gewesen, zehn Jahre jünger als sie jetzt. Sie hatte ihn all die Jahre alleingelassen, allein im Hochsicherheitstrakt einer staatlichen Irrenanstalt. Allein in einem teilnahmslosen Rechtssystem, das er nicht verstand und das ihn nicht verstand. Julia kaute an der Haut neben ihrem Daumennagel, bis sie Blut schmeckte, und starrte auf das verschwommene Rücklicht des Wagens vor ihr. Jetzt gab es ein weiteres Geheimnis, das sie vor ihren Freunden und Kollegen verbergen musste. Nur, dass sie diesmal vielleicht nicht allein damit fertig werden würde.
« Schizo», sagte sie laut. Dann öffnete sie das Fenster und spie das schmutzige, furchteinflößende Wort hinaus auf die regennasse Straße.
KAPITEL 62
    H ALT, JUNGE DAME! Hier solltest du besser nicht rein— gehen.» Ein großer, stämmiger Polizist in Uniform blockierte den Durchgang zum Wohnzimmer. Seine Arme griffen nach ihr und hielten sie fest. Sie schrie, schlug auf ihn ein, wollte ihm das Gesicht zerkratzen, damit er zurückzuckte und sie an ihm vorbeischlüpfen konnte. Es war ihr Haus, verdammt! Vielleicht waren sie noch am Leben. Es hatte keinen Sinn. Ihr schmächtiger Körper konnte nichts gegen den Polizisten ausrichten.
    « Ich muss da rein», flehte sie.
Bitte! Sie verstehen das nicht! Ich muss da rein!»
Nein, das musst du nicht, Kleine», entgegnete der Mann mit ruhiger, besänftigender Stimme. Zu ruhig. Als wollte er sagen:
Jetzt kommt jede Eile zu spät.»
Meine Eltern sind da drin! Ich muss zu ihnen!»
Nein. Es ist besser, wenn du nicht zu ihnen gehst, glaub mir. Wo ist Potter?», rief der Polizist über seine Schulter hinweg ins Wohnzimmer. Sag ihm, er soll einen Psychologen herschicken! Oder wenigstens einen Sanitäter!»
Das ist meine Mutter! Meine Mutter!», schrie sie.
Mama! O Gott, Mama!» Durch die Beine des Polizisten sah sie eine leuchtend rote

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