Vater unser
als Julia und Andrew wieder nach Hause kamen, sah das Wohnzimmer genauso aus wie zuvor, und der Arm ihres Vaters war nicht eingegipst. Trotzdem durften sie ihm nicht zu nahe kommen, weil ... Warum eigentlich nicht? Daran erinnerte sich Julia nicht mehr. In den Monaten nach ihrer Rückkehr verließ ihr Vater sein Zimmer so gut wie nie, und wenn, dann trug er seinen Schlafanzug – eine blaugestreifte Schlafanzughose und ein weißes Unterhemd. Jedes Mal. War das der erste Krankheitsschub gewesen? Ging es ihm danach wieder besser? Warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen? Warum sah sie jetzt auf einmal alles so klar? Damals begann ihre Mutter, viel zu arbeiten – als Aushilfe in einem Restaurant oder als Verkäuferin in einem Geschäft für Künstlerbedarf. Dennoch konnte sich Julia nicht daran erinnern, dass sie und ihr Bruder jemals mit ihrem Vater allein zu Hause geblieben waren. Sie verbrachten viel Zeit bei Mrs. Musemeci oder bei Freunden, und manchmal nahm ihre Mutter sie auch mit ins Restaurant, wo sie auf der Treppe zum Hinterhof saßen, Comic-Hefte lasen oder Ball spielten, bis ihre Mutter Feierabend hatte. Selbst Jahre nach ihrem Aufenthalt auf der Farm, als ihr Vater wieder bei der Gasgesellschaft arbeitete und die ganze Familie mittwochs gemeinsam zu Abend aß, ließ ihre Mutter sie und Andy nicht mit ihm allein. Komisch, dass ihr das bis zu diesem Moment niemals eigenartig vorgekommen war. Julia versuchte verzweifelt, sich daran zu erinnern, wie ihr Vater vor der Krankheit gewesen war. Bilder schossen ihr durch den Kopf, Schnappschüsse von einem gutaussehenden, etwas verschrobenen Mann, der mit ihr zum Spielplatz in der Chestnut Street gegangen war, um dort Drachen steigen zu lassen. Der einen furchtbaren Wutanfall bekam, wenn auf seinem Schreibtisch ein Bleistift fehlte, sich jedoch halb totlachte, wenn Peanuts, der Hund, ausbüxte. Einmal hatte er sie mit einem Eis vom Eismann überrascht, und als er sich ein neues Auto gekauft hatte, durfte sie auf seinem Schoß sitzen und lenken. Es gab also Erinnerungen, doch es waren nur wenige.
« Warum hat mir nie jemand etwas gesagt?», fragte sie, und immer noch rannen ihr Tränen über die Wangen.
« Warum habe ich nichts von Andys Krankheit gewusst?»
« Irene wollte nicht, dass du es weißt», erwiderte Nora, riss ein Stück Küchenkrepp von der Rolle und reichte es ihr.
« Wir wollten nicht, dass du es weißt. Es war zu deinem Besten. Du warst noch ein Kind. Das musst du verstehen.»
« Aber warum?», fragte Julia und blickte Nora eindringlich an. Doch plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Das letzte Puzzleteil fand seinen Platz, das Labyrinth öffnete sich. Sie starrte wieder hinab auf ihren Schoß.
« Weil ihr alle befürchtet habt, dass auch ich die Krankheit habe», sagte sie leise.
KAPITEL 61
BEI ALLDEM darf man den genetischen Faktor nicht außer Acht lassen. Mit jedem Familienmitglied, das von der Krankheit betroffen ist, steigt das Risiko für die anderen drastisch an. Dr. Barakats Worte gingen Julia wieder und wieder durch den Kopf. Sie dachte daran, wie sie am vergangenen Freitag in seinem Büro gesessen, das teure Mobiliar bewundert und seinen Ausführungen gelauscht hatte – ohne zu ahnen, dass er auch über sie sprach. Das Risiko steigt proportional an. Wenn jemandes Schwester, Mutter und Großmutter an Schizophrenie leiden, hat dieser Jemand ein sechsundzwanzigmal höheres Risiko zu erkranken als beispielsweise Sie oder ich. Als Sie oder ich. Damit hatte er gemeint: Wir sind normal. Wir sind nicht geisteskrank wie der Angeklagte. Uns betrifft diese Krankheit nicht. Nur zwei Tage zuvor hatte sie mit den Gutachtern im Gerichtssaal Ursache und Auswirkungen der Schizophrenie erörtert und war insgeheim froh darüber gewesen, dass sie dem Club angehörte. Dem Club der
« Normalen». Sie war eine gesunde, gutaussehende Frau gewesen, die mit Fachleuten über die verschiedenen Symptome einer fremden Krankheit diskutiert hatte. Aber jetzt war alles anders. Jetzt war sie eine Betroffene. Sie war die als Prinzessin verkleidete Dienstmagd, deren Kleid während des Balls zeriss, sodass sie als Betrügerin entlarvt wurde. Sie war eine Prozentzahl – ein Fall für die Statistik. Schon allein das Wort klang plötzlich abstoßend und schmutzig und furchterregend. Schizophrenie. Schizo. Julia wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, doch es war nutzlos. Seit zwei Tagen konnte sie nicht aufhören zu weinen. Vielleicht
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