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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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Blutlache auf dem cremefarbenen Wohnzimmerteppich. Auch die Tapeten waren voller Blut. Hinter dem Sofa entdeckte sie etwas, die gelben Rosenknospen am Ärmel des neuen Nachthemds ihrer Mutter. Julia hatte es ihr letzte Woche zum Geburtstag geschenkt. Lange, grazile Finger hielten ein blutiges Telefon in der Hand, die Nägel in dezentem Rosa lackiert. Julias Beine begannen zu zittern. Potter stürmte zur Vordertür herein.
Julie, du musst jetzt mit mir kommen.»
Nein! Ich will sie sehen! Ich muss sie zuerst sehen!»
Julie, dadrin ist etwas wirklich Schlimmes passiert», sagte Potter. Julia drehte sich zu ihm um und schrie:
Ich heiße Julia, Sie Arschloch! J-U-L-I-A. Und dadrin sind meine Eltern! Meine Mom ich will sie sehen! Sie können mir nicht verbieten, meine Eltern zu sehen!» Sie begann zu schluchzen. Die Uniformierten und Anzugträger im Wohnzimmer hatten ihre Arbeit eingestellt und starrten sie an.
Rufen Sie Disick an», sprach Potter in sein Funkgerät und fuhr sich durch das schweißfeuchte Haar. Der Detective hatte einige Pfund Übergewicht, und nach dem Spurt über den Rasen hatte er einen roten Kopf und keuchte.
Er soll in einer halben Stunde auf dem Revier sein.» Julia fühlte sich plötzlich furchtbar erschöpft und sackte kraftlos zusammen. Das musste ein Traum sein. Das konnte alles nur ein schrecklicher Traum sein. Das Leben konnte sich doch nicht so schnell ändern.
Bringen Sie sie raus, damit wir hier weitermachen können», sagte der Polizist zu Potter.
Erst mal müssen wir jemanden finden, der auf dich aufpasst», sagte Potter sanft und ging vor ihr in die Hocke.
Hast du irgendwo noch Familie, Kleines?» Irgendwo noch Familie ... Ihre eigene existierte nicht mehr. Sie starrte geistesabwesend auf einen kleinen Fettßeck auf Potters Krawatte. Der Detective nahm ihren Arm.
Komm, Julia, gehen wir. Auf dem Revier wartet jemand auf dich, mit dem du dich unterhalten kannst, während wir deine Verwandten ausfindig machen. Und ich muss dir einige Fragen stellen ...» Potters Stimme wurde leiser und verstummte. Er redete zwar weiter, seine Lippen bewegten sich, doch Julia hörte ihn nicht mehr, hörte überhaupt keine Geräusche mehr, spürte nur noch einen Druck in ihrem Kopf, der sie taub zu machen schien, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Sie beobachtete, wie die Polizisten um sie herum wieder ihre Arbeit aufnahmen. Der Mann vor dem Wohnzimmer nickte ihr ernst zu, wandte sich dann an den Offteer hinter ihm und gab ihm gestenreich einige Anweisungen. Die Welt drehte sich einfach weiter. Sie ließ sich von Potter durch den kleinen Flur und die Haustür hinaus in die kalte Nacht führen. Inzwischen war gelbes Absperrband gespannt worden, um die wachsende Traube der Nachbarn in Pyjamas zurückzuhalten. Auf dem Gehweg zur Straße blieb Julia stehen, drehte sich um und warf einen letzten Blick auf das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie wusste, dass sie es niemals wiedersehen würde. Alle Fenster waren hell erleuchtet, alle Zimmer voller Fremder, selbst ihr eigenes. Durch das Wohnzimmerfenster sah sie, wie die Techniker der Spurensicherung, die Fotografen und Polizisten ihre Arbeit verrichteten, direkt neben dem Weihnachtsbaum, den sie und ihre Mutter erst vor wenigen Tagen gemeinsam geschmückt hatten. Niemand hatte bis jetzt daran gedacht, die Lichterketten abzuschalten.
KAPITEL 63
    A N EINEM Samstagmorgen dauerte die Taxifahrt von dem Hotel am Flughafen LaGuardia bis nach Ward’s Island nur zwanzig Minuten. Es war seltsam. Sie war in New York aufgewachsen. Sie hatte in den Sommerferien im Zoo in Queens und in der Bronx gejobbt, hatte unzählige Wochenenden am Seaport und in Greenwich Village verbracht, Dutzende von Konzerten auf dem Washington Square und im Central Park besucht. Sie war wahrscheinlich eine der wenigen New Yorker, die die Freiheitsstatue und das Empire State Building besucht hatten, und sie hatte den New Yorker SubwayPlan auswendig gelernt wie eine Schatzkarte. Doch bis vor drei Tagen hatte sie noch nie etwas von Ward’s Island gehört. Dabei war sie jahrelang nur eine kurze Taxifahrt von ihrem Bruder entfernt gewesen. Nach der Mautstelle an der Triborough Bridge bog der Taxifahrer rechts ab und folgte den Schildern in Richtung Randall’s Island und Ward’s Island – Schildern, die Julia auf ihren unzähligen Fahrten über die Brücke aus irgendeinem Grund immer übersehen hatte. Die Straße schlängelte sich durch einen – für New Yorker Verhältnisse – dichten

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