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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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Wald voller Eichen, Platanen und Ahornbäumen, führte dann bergab und schließlich unter der Brücke hindurch. Der Blick, der sich von hier aus auf Manhattan bot, war atemberaubend. Durch die winterlich kahlen Bäume ragte etwa einen Kilometer westlich die Skyline über dem dunklen Wasser des East River auf. Doch hier gab es keine Häuser, von denen aus man die Aussicht hätte genießen können, keine öffentlichen Gebäude, Restaurants oder Parks. Für eine Stadt, in der ein Schuhkarton mit Ausblick auf eine Mauer vierhunderttausend Dollar kostete und man im Sommer ein Stück Rasen im Central Park an der Börse verkaufen könnte, war dieses erstklassige Bauland erstaunlich unberührt. Das Taxi hielt vor dem Tor eines alten, steinernen Wachhäuschens, neben dem ein weiteres unauffälliges grün-weißes Schild mit der Aufschrift Manhattan Psychiatric Center stand. Julia ließ das Fenster herunter.
« Geht es hier nach Kirby?»
« Ihren Namen und Ihren Ausweis, bitte», erwiderte der Wachmann, der einen Stift und ein Klemmbrett vor sich hatte.
« Valenciano», sagte Julia, zeigte ihm die Plakette der Staatsanwaltschaft und hoffte, dass diese in New York eine ähnlich magische Wirkung hätte wie in Miami. Sie war zu müde, um Fragen zu beantworten. Es funktionierte. Der Wachmann nickte und ließ das Klemmbrett sinken. Die Tatsache, dass sie im Taxi statt in einem Streifenwagen gekommen war, schien ihn nicht weiter zu stören.
« Fahren Sie einfach durch. Kirby ist das dritte Gebäude auf der linken Seite.»
« Welche Hausnummer?» Der Wachmann sah sie verblüfft an.
« Es ist das einzige Gebäude mit zehn Meter hohem zweireihigem Stacheldrahtzaun, Lady. Sie können es nicht verfehlen, glauben Sie mir.» Sie nickte und lehnte sich in ihrem Sitz zurück, während das Taxi das Wachhäuschen hinter sich ließ. Aus dem Internet wusste sie, dass das Manhattan Psychiatric Center aus drei Gebäuden bestand – Meyer, Dunlop und Kirby. Alle drei waren in den fünfziger Jahren erbaut worden, um die große Zahl psychisch kranker Menschen – bis zu achtundzwanzigtausend auf einmal – unterzubringen. Doch in den Sechzigern – als immer bessere Psychopharmaka entwickelt wurden und geschlossene Anstalten aus der Mode kamen – schrumpfte die Zahl von Zehntausenden auf wenige hundert. In den Siebzigern schlossen der Dunlop-und der Kirby-Trakt die Türen für Patienten, und der medizinische Betrieb fand ausschließlich im MeyerGebäude statt, wo von nun an sowohl stationär als auch ambulant behandelt wurde. Im Dunlop-Gebäude wurde später die Verwaltung untergebracht. Der Kirby-Trakt blieb geschlossen, bis er 1985 als geschlossene Klinik für forensische Psychiatrie wiedereröffnet wurde – eine Irrenanstalt unserer Tage. Julias Blick schweifte über die schmutzigen Fenster, als das Taxi den Berg hinauf an den ersten beiden trostlosen Gebäuden vorbeifuhr – vermutlich Meyer und Dunlop. Trotz der Kälte saßen einige ganz in Weiß gekleidete Angestellte draußen an den im Boden verankerten Picknicktischen neben den Eingangstüren, tranken Kaffee, rauchten oder starrten gedankenverloren vor sich hin. Eine Frau mittleren Alters in einem dicken roten Parka hockte auf dem Bordstein und rauchte eine Zigarette. Sie trug Socken und Sandalen und redete wild gestikulierend auf einen imaginären Gesprächspartner ein. Bei ihr handelte es sich offensichtlich um eine Patientin. Julia wandte schnell den Blick ab. Der Wachmann hatte recht – der riesige Zaun rings um das zwölfstöckige Kirby-Gebäude war nicht zu übersehen. Sie zahlte den Taxifahrer und sah zu, wie er auf dem Parkplatz wendete und davonfuhr. Am liebsten wäre sie ihm nachgerannt und hätte geschrien, er solle anhalten und sie zurück zum Flughafen bringen. Zurück nach Miami. Zurück zu ihrem völlig aus den Fugen geratenen Leben. Doch ihre Füße bewegten sich nicht, und sie schwieg, bis das Taxi hinter den Bäumen verschwunden war. Mit kalten, zitternden Fingern zündete sie sich eine Zigarette an, während sie zusah, wie die Abgase des Wagens sich in der Luft auflösten. Sie konnte nicht zurück. Nichts war mehr sicher, nichts war mehr vertraut. Ihre Vergangenheit war eine Lüge gewesen, selbst die schönsten Erinnerungen hatten einen faden Beigeschmack bekommen. Sie hatte das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen. Ein Schritt in die falsche Richtung, und sie würde in die Tiefe stürzen. Aber gab es überhaupt noch so etwas wie die richtige Richtung? In diesem bedrohlich

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