Vater unser
aufragenden Gebäude wartete nicht nur die unbekannte Vergangenheit auf sie, sondern auch eine Zukunft, mit der sie vielleicht gar nicht konfrontiert werden wollte. Schließlich wandte Julia sich von der Straße ab und betrachtete das schmutzige Anstaltsgebäude, das bedrohlich über ihr aufragte. Die schwarzen, vergitterten Fenster starrten sie an wie kalte, leere Augenhöhlen; über dem Stacheldrahtbart ragten die Zaunspitzen auf wie Reißzähne in einem verzerrt grinsenden Mund. Sie fragte sich, wie viele Gesichter sie in diesem Moment von den Fenstern aus beobachteten. Die Gesichter von Mördern und Vergewaltigern, von geisteskranken Straftätern. Waren Andrews Augen darunter? Würde er sie erkennen? Hatte er während all der Jahre darauf gewartet, dass sie ihn besuchte? Sie zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und fasste einen Entschluss. Sie machte einen Schritt auf den Abgrund zu und Keß sich in die Dunkelheit fallen, ohne zu wissen, ob jemand sie auffangen würde. Als sie an dem Stacheldraht und den Picknicktischen vorbei zum Eingang ging, durch die Sicherheitstüren und Metalldetektoren, beschäftigte sie nur eine Frage: Wartete er immer noch?
KAPITEL 64
W EN WOLLEN Sie besuchen?», fragte der Wachmann auf der anderen Seite der kugelsicheren Scheibe, nachdem Julia ihm ihren Führerschein und die Plakette der Staatsanwaltschaft gezeigt hatte. In dem kleinen Raum hinter ihm saßen fünf oder sechs seiner Kollegen, aßen Doughnuts und tranken Kaffee. In einem tragbaren Fernseher lief ein Zei chentrickfilm. Auf dem Tisch neben dem Metalldetektor durchsuchte ein weiterer Wachmann ihre Handtasche nach Warfen.
« Cirto, Andrew Cirto», sagte sie.
« Cirto? Das wäre das erste Mal. Sind Sie von der Polizei?», fragte er mit ausgeprägtem New Yorker Akzent und befingerte die Plakette, in deren Mitte eine rote Sonne über einer grünen Palme und dem blauen Meer prangte. Selbst Julia fand, dass sie wie eine billige Fälschung aussah.
« Nein. Ich bin Staatsanwältin. In Miami.»
« Wollen Sie Cirto wegen eines Falles befragen?» Julia schüttelte den Kopf und räusperte sich.
« Der Besuch ist privat.» Sie sah sich im Eingangsbereich um. Auf dem Tisch in der Ecke stand ein kleiner, künstlicher Weihnachtsbaum mit blinkenden Lichtern. Sie wusste von ihren Bekannten bei der Gefängnisbehörde, dass in den Haftanstalten an Besuchstagen oft großer Trubel herrschte. Doch in Kirby schien dies selbst an Heiligabend nicht der Fall zu sein.
« Wir müssen erst auf seiner Station anrufen, dann bringen die Betreuer ihn in den Besuchsraum. Das kann eine Weile dauern. Nehmen Sie doch solange Platz.»
« Danke», sagte Julia, nickte und wandte sich ab. Doch dann fiel ihr etwas ein. Sie drehte sich wieder um und fragte:
« Teilen die Betreuer ihm mit, wer der Besucher ist?»
« Ich denke schon.»
« Dann sollen Sie ihm bitte sagen, dass Ju-Ju hier ist», bat sie und setzte sich in der Nähe des Eingangs auf eine Kunststoffbank. Auf dem Tisch lag ein Stapel Zeitschriften. Die Titelseite des People Magazine verkündete, dass Tom Cruise und Katie Holmes immer noch ein Paar waren, während Time berichtete, dass man im Irak immer noch keine Massenvernichtungswaffen gefunden hatte. Julia versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und sich die Unterhaltung mit Andrew vorzustellen, doch sie hatte keine Ahnung, wie es nach der Begrüßung weitergehen sollte. Eine Viertelstunde später betrat ein schmächtiger Mann in Anzug und Arztkittel den Eingangsbereich. Er kniff skeptisch die Augen zusammen und machte keinen besonders erfreuten Eindruck.
« Miss Valenciano?»
« Ja», sagte Julia und erhob sich.
« Ich bin Dr. Harry Mynks, Direktor dieser Klinik und einer von Andrew Cirtos behandelnden Ärzten.» Sie nickte. Eine peinliche Pause entstand.
« Mir wurde mitgeteilt, dass eine Besucherin für Andrew hier sei», fuhr er schließlich in kühlem Tonfall fort.
« Es tut mir leid, aber den Namen Valenciano kenne ich nicht.»
« Ist das ein Problem?», fragte sie mit wachsendem Unbehagen.
« Ich bin seit acht Jahren der Direktor von Kirby, Miss Valenciano», erwiderte er, « und während dieser Zeit hatte Andrew kein einziges Mal Besuch. Deswegen würde ich mich gern kurz mit Ihnen unterhalten.» Er nickte dem Uniformierten hinter der Sicherheitsscheibe zu, der daraufhin die Tür entriegelte.
« Würden Sie mich zu meinem Büro begleiten, damit wir ein paar Dinge besprechen können?», fragte Dr. Mynks und hielt ihr die Tür auf. Julia schluckte,
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