Vater unser
die Zeit für dieses Gespräch genommen haben», sagte er und stand auf.
« Ich war einfach neugierig, Sie kennenzulernen. Sie müssen das verstehen – vierzehn Jahre lang kein Besuch, noch nicht einmal ein Anruf. Und jetzt, wenige Wochen vor seiner Entlassung, kommt auf einmal jemand. Ich dachte, das kann kein Zufall sein, und wollte mich davon überzeugen, dass Sie keine Journalistin sind, die eine alte Story aufkochen möchte. Soweit ich das mitbekommen habe, hat der Fall seinerzeit einiges Aufsehen erregt.»
« Entlassung?», stieß Julia entgeistert hervor.
« Ja», erwiderte Dr. Mynks und musterte sie stirnrunzelnd.
« Andrews Fall wurde gerade geprüft. Alle zwei Jahre wird eine Beurteilung durchgeführt. Das Prüfungskomitee hat die Berichte des Stationspsychiaters, der Psychologen und der Sozialarbeiter gelesen und empfohlen, ihn in eine Einrichtung mit niedrigerer Sicherheitsstufe zu verlegen. Sobald ein Bett frei wird, spätestens innerhalb der nächsten neunzig Tage, kommt er in das Rockland Psychiatric Center. Wir haben die Hoffnung, dass er von dort aus langsam wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden kann.»
KAPITEL 65
D AS TREPPENHAUS, das zum Besuchsraum im ersten Stock führte, roch zwar nach frischer Farbe, doch die grauen Wände waren fleckig und warfen an vielen Stellen regelrecht Blasen. Leuchtstoffröhren tauchten alles in ein kaltes, leicht violettes Licht. Mit gesenktem Kopf, die Hände in den Taschen und die Nase in ihrem Rollkragenpullover vergraben, ging Julia die Stufen hinauf. Sie erinnerte sich an ihren ersten Besuch im Gefängnis von Dade County. Sie war frischgebackene C-Anwältin gewesen und hatte die Aussage eines Häftlings aufnehmen müssen. Der üble Gestank hatte ihr umgehend Übelkeit verursacht. Die Luft hatte nicht nur nach Urin und Kot und alter Farbe gerochen, sondern auch dreckig. Wie die Männer in den Zellen, die bei ihrem Anblick anzüglich grinsten und hinter ihr herpfiffen. Jetzt, in diesem grauen Treppenhaus – aber auch im Eingangsbereich, im Flur, in Dr. Mynks’ Büro, überall um sie herum –, stank die Luft weniger nach Dreck als vielmehr nach Krankheit. Es war ein Geruch wie im Krankenhaus, ein Geruch, den auch Desinfektionsmittel nie ganz vertreiben konnten. Julia atmete durch den Mund und wünschte sich nach draußen in die Kälte, in die klare, frische Luft, weit weg von diesem Gebäude, in dem sie den Atem von kranken, verrückten Menschen inhalieren musste.
« Besucher» – der Pfeil auf dem handgeschriebenen Schild wies zu einer Tür am Ende eines kurzen Ganges. Über dieser Tür befand sich ein Sichtfenster, durch das ein Wachmann sie beobachtete. Er betätigte den Öffner, und Julia sprang vor und drückte die Tür auf, bevor sich das Schloss wieder verriegelte. Dann zögerte sie für eine Sekunde, straffte die Schultern und betrat den Raum. Die Wände waren in einem hellen Blau gestrichen. Eine schöne, beruhigende Farbe, dachte Julia sofort. Plastikstühle und runde Resopaltische in Holzoptik standen locker im Raum verteilt. Keiner von ihnen war besetzt. In einer Ecke blinkte ein weiterer künstlicher Weihnachtsbaum. Durch die vergitterten Fenster, die auf den menschenleeren Hof hinausgingen, fiel helles Sonnenlicht und warf rautenförmige Schatten auf Tische und Fußboden. Vor einem Fernsehapparat befanden sich einige orangefarbene Sessel, die noch aus den Siebzigern zu stammen schienen. Links von Julia saßen zwei Wachmänner in einer Art offenen Kabine, die etwa zwei Meter höher lag als der Besuchsraum. Ein junger, muskulöser Schwarzer in einem weißen Polohemd – Julia ging davon aus, dass er ein Sicherheitsbeamter war – stand unter der Kabine, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah sie eindringlich an. Niemand sagte etwas. Das einzige Geräusch war die leise Weihnachtsmusik, die aus dem Radio in der Kabine drang. Julias Blick fiel auf eine Gestalt, die an einem Tisch neben dem Fenster in der Ecke saß. Der stämmige Mann trug ein lohfarbenes Hemd und eine braune Hose. Er hielt den Kopf gesenkt und hatte seine Hände vor sich auf der Tischplatte gefaltet. Das Erste, was Julia an ihm auffiel, waren seine zerzausten, dunkelbraunen, ein wenig schütteren Locken. Sie wusste sofort, dass es Andrew war. Ein Keuchen entfuhr ihr, woraufhin der Sicherheitsbeamte argwöhnisch die Stirn runzelte. Andrew jedoch rührte sich nicht. Julia durchquerte langsam den Raum, der ihr auf einmal so groß vorkam wie ein Fußballplatz.
« Andrew?»,
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