Vater unser
mich auch furchtbar müde gemacht.»
« Welche Medikamente bekommst du?»
« Momentan Risperdal – so heißt es, glaube ich. Ich hatte schon viele verschiedene. Ich mag es nicht, wenn ich umgestellt werde.» Er blinzelte erneut und tippte nervös mit dem Fuß auf den Boden.
« Ich finde wirklich, dass du gut aussiehst», beharrte Julia.
« Und ich habe gehört, dass du bald entlassen wirst. Darüber bist du doch bestimmt froh.»
« Kann ich bitte deine Hände sehen?», fragte Andrew unvermittelt und runzelte die Stirn.
« Es tut mir leid, aber ich muss – ich würde wirklich gern deine Hände sehen.» Julia schluckte. Sie hatte völlig vergessen, was Dr. Mynks ihr eingeschärft hatte. Sie nickte und legte ihre Hände mit den Handflächen nach oben auf den Tisch. Andrew wirkte auf einmal sehr angespannt und tippte nun mit beiden Füßen auf den Boden. Als er mit seinen rauen Fingern über ihre Hand strich, hatte sie das Gefühl, einen elektrischen Schlag zu bekommen. Es waren die Hände ihres Bruders, doch auch die Hände eines Mörders. Die Hände, die ihren Eltern auf brutale Weise das Leben genommen hatten. Julia sah gezackte rote Narben und weiße Linien, die sich über seine Finger und Handflächen zogen. Während Andrews Finger ihre Hand untersuchten und sorgfältig jedes Gelenk abtasteten, kämpfte sie gegen den Drang, zurückzuzucken. Ihre Handflächen begannen zu schwitzen, und sie fragte sich, ob er dies als Zeichen dafür deuten würde, dass sie etwas zu verbergen hatte. Der Gedanke ließ ihre Hände noch feuchter werden. Plötzlich umfasste Andrew ihre Handgelenke und sah zu ihr auf. Er hatte Kraft. Viel Kraft.
« Wo warst du die ganze Zeit?», wollte er mit düsterer Miene wissen. Julias Herz begann wie wild zu pochen, und Adrenalin rann durch ihre Adern. Doch sie versuchte nicht, ihre Hände zu entwinden oder gar den Sicherheitsbeamten zu rufen. Stattdessen erwiderte sie Andys Blick, schaute in seine traurigen, müden Augen und erkannte, dass er nicht wütend war. Er war nicht gefährlich. Er hatte Angst. Und er flehte um eine Antwort. Eine Antwort, die sie ihm seit fünfzehn Jahren schuldete. Es waren die vernarbten Hände ihres Bruders, die sie festhielten.
« Es tut mir so leid, Andy», sagte sie mit bebender Stimme.
« Ich hätte dich niemals verlassen sollen.» Sie spürte, wie sich sein Griff lockerte. Resigniert senkte er den Kopf. Julia hätte aufstehen und gehen können, doch sie nahm seine Hände in die ihren und drückte sie sanft.
« Aber jetzt bin ich hier, Andy. Und ich werde dich nicht wieder alleinlassen, das verspreche ich dir.» Die Welt schien stillzustehen, als wolle sie ihnen genug Zeit geben, um diesen Augenblick auszukosten. Er erwiderte den Händedruck und schloss die Augen.
« Verzeih mir, Ju-Ju. Bitte verzeih mir», flüsterte er.
« Ich wollte nicht, dass du mich hasst. Ich weiß, was ich getan habe, und ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Ich wünschte, ich könnte alles rückgängig machen. Ich wünschte, ich wäre nie geboren worden. Ich wünschte ...» Er begann zu weinen, und auch Julia konnte die Tränen nicht zurückhalten. Lange saßen sie so zusammen, hielten einander an den Händen und redeten und weinten miteinander, bis der Winterhimmel langsam dunkel wurde und der Sicherheitsbeamte ihnen mitteilte, dass die Besuchszeit vorüber war.
KAPITEL 66
DAS KLEINE Steinhaus stand auf einer Lichtung, umgeben von hochgewachsenen Kiefern, Eichen und einigen wenigen Palmen. Auf der vorderen Veranda bewegte sich ein alter Schaukelstuhl knarrend im Wind; weißer Rauch stieg aus dem Kamin in den pechschwarzen, mondlosen Himmel, an dem die Sterne wie Diamanten funkelten. Da es außergewöhnlich kalt werden sollte, waren die Blumenkörbe, die normalerweise von dem Spalier der Veranda hingen, über Nacht hereingeholt worden. Eine unbefestigte Auffahrt schlängelte sich von der Hauptstraße durch die Bäume am Haus vorbei und endete schließlich vor einem kleinen Pferdestall mit vier Boxen. Hinter dem Stall führten zwei ausgetretene Reitwege an einer rostigen Schaukel und einem Plastikspielhaus vorbei in den Wald hinein. Keine fünfzehn Meter vom Haus entfernt, verborgen in den schwarzen Schatten der Kiefern, stand ein Mann und beobachtete lautlos die postkartenreife Szenerie. Das Haus lag abseits und mitten im Wald, doch den örtlichen Supermarkt erreichte man schon nach einer kurzen Autofahrt. Es erinnerte ihn ein wenig an das Knusperhäuschen von Hänsel und Gretel: Die
Weitere Kostenlose Bücher