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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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fragte sie mit sanfter Stimme, als sie vor seinem Tisch stand.
« Andrew, ich bin’s. Julia.» Der Mann sah auf. Seine Augen bohrten sich in ihre. Sie wich seinem Blick aus und schluckte.
« Darf ich mich zu dir setzen?» Er beobachtete schweigend, wie sie sich einen Stuhl heranzog. Julia setzte sich und wartete. Wartete darauf, dass irgendeiner der Sätze, die ihr durch den Kopf schossen, den Weg über ihre Lippen fand. Wartete darauf, dass Andrew etwas sagte. Sie versuchte, ihren Bruder nicht anzustarren – den Menschen, den sie als Kind vergöttert hatte. Den Menschen, der ihr beigebracht hatte, wie man Gitarre spielt und auf einen Baum klettert. Der jeden Morgen Hand in Hand mit ihr zur Bushaltestelle gegangen war, selbst wenn ihre Mutter sie nicht mehr sehen konnte. Der ihre Begeisterung für Led Zeppelin und Steely Dan und Pink Floyd geweckt hatte, während alle anderen Madonna hörten. Andrew war nur vier Jahre älter als sie, doch es hätten genauso gut zwanzig sein können. Früher war er schlank und sportlich gewesen, nun hatte er geschätzte fünfundzwanzig Kilo Übergewicht, und seine Haare wurden an einigen Stellen bereits grau. Auf der Highschool war er nicht nur Quarterback, sondern auch der Kapitän der Baseballmannschaft gewesen und hatte ein Sportstipendium für die Universität von North Carolina in Charlotte bekommen. Jedes Mädchen wollte mit ihm ausgehen, jeder Junge wollte so sein wie er. Jetzt war sein Gesicht blass, aufgedunsen und fleckig, wahrscheinlich aufgrund der Medikamente. Doch es waren nicht diese Veränderungen, die Julia dermaßen aus der Fassung brachten, dass sie nervös in ihrer Handtasche kramte. Es waren seine Augen. Andrews schokoladenbraune Augen hatten früher immer auf eine ganz besondere Weise gefunkelt und geleuchtet. Jetzt blickten sie stumpf und teilnahmslos. Ohne Leuchten. Ohne Leben. Schließlich brach Julia das Schweigen, doch ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
« Es ist sehr lange her, Andrew. Ich wusste nicht, dass du – hier bist.»
« Ich verstehe», erwiderte Andrew leise und nickte. Seine Stimme klang genau so, wie Julia sie in Erinnerung hatte. Erneut saßen sie für einige Zeit schweigend da. Dann schaute Andrew auf.
« Wie geht es dir?» Julia lächelte.
« Ganz gut. Ich lebe jetzt in Miami. Ich bin vor ein paar Jahren aus Washington weggezogen.»
« Washington?»
« Ich bin dort zur Schule gegangen.»
« Was machst du beruflich?», fragte er und warfeinen Blick auf ihre Hände.
« Ich bin Anwältin.» Vielleicht war es besser, nicht zu sehr ins Detail zu gehen.
« Und wie geht es dir? Sind die Leute hier nett?» Er zuckte mit den Schultern.
« Es ist ganz in Ordnung. Zumindest besser als vorher. In den ersten Jahren war es schrecklich.» Er zögerte kurz, als müsse er sich an etwas erinnern.
« Jetzt dürfen wir fernsehen. Wir können am Computer arbeiten, und inzwischen wissen wir, wie das Internet funktioniert. Ich lese gern Zeitung. Am liebsten die Times, wenn man es mir erlaubt.» Er zögerte.
« Ich bin jetzt Republikaner.»
« Dann gehörst du vielleicht wirklich hier rein», erwiderte Julia lächelnd. Andrew lächelte ebenfalls.
« Gut, dass ich hier drin nicht wählen darf, oder?» Plötzlich wurde seine Miene finster.
« Aber mir gefallen die Schlagzeilen nicht.» Julia bekam eine Gänsehaut.
« Welche Schlagzeilen?» Andrew schüttelte den Kopf, blinzelte einige Male und senkte den Blick.
« Bist du verheiratet?»
« Nein. Ich hatte hin und wieder einen Freund ... Momentan gibt es auch jemanden, aber das ist noch nichts Ernstes.» Sie hatte angenommen, sie müsse mit Andrew in kurzen, deutlich artikulierten Sätzen sprechen, als sei er ein kleines Kind. Doch das war offenbar nicht nötig. Sie führten eine richtige Unterhaltung. Julia fühlte sich immer noch ein wenig unbehaglich, aber auch dieses Gefühl verschwand langsam.
« Hast du Kinder?», fragte er.
« Ich versuch’s erst mal mit dem Heiraten. Danach sehen wir weiter.»
« Du kannst dir die Männer bestimmt aussuchen», sagte er.
« Du bist eine hübsche Frau geworden, Julia. Und so groß! Du siehst ganz anders aus, als ich dich in Erinnerung habe.»
« Danke. Bei der Größe täuschst du dich allerdings. Die ist geschummelt.» Sie deutete auf ihre Schuhe.
« Acht-ZentimeterAbsätze. Aber du siehst auch gut aus, Andy.» Er schüttelte wieder den Kopf.
« Gar nicht wahr. Baseball sehe ich jetzt nur noch im Fernsehen. Und durch die Medikamente nimmt man zu, früher haben sie

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