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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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war, und setzte sich ruckartig auf.
« Julia?»
« Es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe –» Ihre Stimme klang leise und unsicher. Eine merkwürdige Panik stieg in ihm auf und legte sich wie ein eiserner Ring um seine Brust. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte er.
« Das macht doch nichts, ich hatte nur die Nummer nicht gleich erkannt.»
« Ich bin in einer Telefonzelle.»
« In einer Telefonzelle? Ich wusste gar nicht, dass es die Dinger überhaupt noch gibt.» Lat stand auf und trat an das Fenster. Im Licht der Straßenlaterne erkannte er peitschende Palmenblätter und einige Mülltonnen seiner Nachbarn, die auf die Straße gerollt waren. Es stürmte ganz ordentlich in dieser Nacht, und aus den Pfützen auf der Straße schloss er, dass es auch geregnet hatte.
« Was ist los? Geht es Ihnen gut?» Sie zögerte kurz.
« Ja, mir geht es gut, aber ich muss Sie nochmal um einen Gefallen bitten, Lat. Ich – ich wollte eine Runde laufen und habe die Orientierung verloren.»
« Sie waren joggen? Mitten in der Nacht?»
« Ja ja. Ich bin jetzt in North Beach an einer Tankstelle, aber es ist eine etwas unheimliche Gegend hier», sagte sie etwas außer Atem.
« Ich – ich hatte gehofft, dass Sie mich vielleicht zu meinem Auto zurückfahren könnten.»

JULIA STAND mit geschlossenen Augen unter der Dusche und genoss das heiße Wasser, das auf sie niederprasselte. Im Radio machten die beiden Moderatoren gerade Witze über den Marquette-Prozess und über die ganzen
« Verrückten», die vor dem Gerichtsgebäude gecampt hatten, in der Hoffnung, am ersten Verhandlungstag einen Platz im Gerichtssaal zu ergattern. Während die Produzenten der Radioshow versuchten, O. J. Simpson ans Telefon zu bekommen, forderten die Moderatoren die Zuhörer auf, anzurufen und Je ne regrette rien zu singen. Dem besten
« Franzosen» winkte ein Preis. Julia überlegte, ob sie den Sender wechseln sollte, doch das würde die Sache wahrscheinlich nicht besser machen. Im Fernseher im Wohnzimmer war David Marquette das Topthema der Morgennachrichten, und auch in der Zeitung, die vor ihrer Wohnungstür lag, würde der Todesarzt mit ziemlicher Sicherheit die Titelseite bestimmen. In den nächsten Wochen gab es kein Entkommen vor dem Wahnsinn, der Miami im Vorfeld eines bekannten Mordprozesses befallen hatte. Julia war schrecklich erschöpft. Lat hatte sie eingesammelt und zu ihrem Auto in einer Seitenstraße von Ricks Apartment gebracht – ohne zu fragen, was sie um drei Uhr morgens in diesem heruntergekommenen Viertel von Miami Beach zu suchen gehabt hatte oder warum sie im Regen und mit viel zu großem T-Shirt joggen gegangen war, nur mit ihrem Autoschlüssel und fünf Dollar in der Tasche. Vielleicht war er bloß zu höflich, um etwas zu sagen. Vielleicht konnte er sich denken, mit wem sie nach der Arbeit nach Hause gefahren war. Vielleicht nahm er aber auch ganz richtig an, dass sie nicht reden wollte. Sie hatte sich geschämt, ihn um diese Zeit anzurufen, doch nachdem klar geworden war, wie weit sie inzwischen von Ricks Wohnung entfernt sein musste, hatte sie Angst bekommen. Und abgesehen von Lat war ihr niemand eingefallen, an den sie sich hätte wenden können. Sie wollte nicht zurück zu Rick und so tun, als sei alles in Ordnung. Eine solch gute Schauspielerin war sie nicht. Deswegen war sie nach Hause gefahren und noch einmal ins Bett gegangen. Doch sie hatte kaum mehr als zwanzig Minuten geschlafen. Es gab zu viele Dinge, über die sie nachdenken musste. In wenigen Stunden würde sie zum ersten Mal die Geschworenen in einem Mordprozess auswählen. Obwohl Rick den potenziellen Geschworenen die Fragen stellte, war sie ebenfalls dafür verantwortlich, dass sie aus Hunderten von Menschen die richtigen zwölf herauspickten – die zwölf, die sich nicht von dem internationalen Presserummel, den allgegenwärtigen Protesten gegen die Todesstrafe und den Organisationen für geistig Kranke beeinflussen ließen und am Ende die richtige Entscheidung trafen. Außerdem wusste sie nicht, wie sie Rick an diesem Morgen gegenübertreten sollte. War er bereits wach? Hatte er schon gemerkt, dass sie nicht mehr an seiner Seite lag? Würde ihn das überhaupt interessieren? Schon die Tatsache, dass sie sich die letzte Frage überhaupt stellte, führte ihr vor Augen, dass es dringend an der Zeit war, sich über ihre ‹Beziehung› klar zu werden. Irgendetwas war zwischen sie getreten. Aber jetzt war kaum der richtige Moment, um darüber nachzudenken. Oder es

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