Vater unser
erscheinenden Fassade hatte sie eine wahre Horrorgeschichte erwartet. Glaube niemals, dass du das Leben eines anderen Menschen wirklich kennst, Julia. Du weißt nur, was derjenige dich wissen lässt. Drei kleine Kinder, ermordet von ihrem eigenen Vater ... Guter Gott, der Kleine hat nicht einmal mitbekommen, was mit ihm geschehen ist. Er ist mit einem Gute-Nacht-Kuss von seiner Mami ins Bett gegangen und nie wieder aufgewacht... Sieh mich an, Daddy! Sieh, was du mir angetan hast! Julia schüttelte die gruseligen Gedanken ab, drückte ihre Zigarette aus und schloss das Fenster. Der gleiche Körper, aber zwei vollkommen unterschiedliche Menschen. Die gleiche Handlung, aber zwei vollkommen unterschiedliche Geschichten. Es waren immer wieder die gleichen Gedanken, die sich in ihrem Kopf im Kreis drehten. Nichts war mehr schwarz oder weiß, alles war zu Grau verschwommen. Sie wollte die quälenden Zweifel loswerden, die Ungewissheit. Sie hätte gern mit jemandem darüber geredet, doch außer Andy schien niemand ihr wirklich zuzuhören. Julia hätte niemals gedacht, dass sie nach so vielen Jahren wieder eine Beziehung zu ihrem Bruder würde aufbauen können. Inzwischen fühlte sie sich wieder so sicher und wohl in seiner Gesellschaft wie einst vor langer Zeit, als sie beide noch Kinder gewesen waren. Allerdings vermieden sie es, über jene Nacht zu sprechen, in der ihre Eltern gestorben waren, und Julia hoffte, dass dies auch so bleiben würde. Sie wollte nur nach vorn schauen. Es genügte ihr, dass sie verstand, was Andys Krankheit ihm angetan hatte. Und sie wusste, dass sie ihm jetzt vergeben konnte. Sie goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein, nahm eine Packung Schmerztabletten aus dem Schrank und ging zurück ins Badezimmer. Der Schlafmangel und die nie zur Ruhe kommenden Gedanken hatten ihr Kopfschmerzen verursacht. Auf dem Weg durch das Wohnzimmer warf Julia einen Bhck auf den Fernseher. Hinter der blonden Reporterin von FOX erkannte sie das Gerichtsgebäude und unzählige Übertragungswagen, die die Straße säumten. Auf einem weiteren kleinen Bild fing eine Kamera aus einem Hubschrauber heraus eine ganze Reihe weißer Zelte auf dem Parkplatz ein, in denen kleine Kommandozentralen der Medienanstalten errichtet worden waren. Unter der Reporterin war auf einem roten Balken der Schriftzug SONDERMELDUNG eingeblendet.
« Der Miami Herald berichtet heute Morgen, dass David Marquette nun auch der Verdächtige in zwei bisher ungeklärten Mordfällen in den Bezirken Wakulla und Santa Rosa in Nordflorida ist. Im Januar 2004 wurden die sechsunddreißig Jahre alte Diane Tebin und ihre neun Jahre alte Tochter Lily Rose Tebin in ihrem Haus in Milton ermordet aufgefunden. Mrs. Tebin war vergewaltigt worden und hatte mehrere Stichverletzungen, es gab damals jedoch keinen Verdächtigen. Im November desselben Jahres wurde eine weitere Familie brutal ermordet. Die dreiundvierzigjährige Sharon Dell aus Crawfordville, ihre Tochter im Teenageralter und ihr kleiner Sohn wurden von Mrs. Dells Mutter tot in ihrem Haus in einem Vorort von Tallahassee gefunden. Mrs. Dell, seit kurzem Witwe, war wie Diane Tebin vergewaltigt worden und hatte mehrere Stichverletzungen. Die Sprecher der Police Departments von MiamiDade und Coral Gables haben bislang keinen Kommentar abgegeben, aber laut unseren Quellen besteht eine Verbindung zwischen diesen Fällen und den Morden hier in Miami. Anrufe bei Marquettes Verteidigern blieben unbeantwortet, und der Hauptankläger der Staatsanwaltschaft, Ricardo Bellido – der, wie heute Morgen ebenfalls bekannt gegeben wurde, die Nachfolge des in den Ruhestand gehenden Generalstaatsanwalts Jerry Tigler antreten wird –, wollte sich ebenfalls nicht zu den neuesten Entwicklungen äußern. Der Prozess gegen David Marquette beginnt heute Morgen, hier in diesem Gerichtsgebäude. Sein Fall hat weltweit Aufmerksamkeit erregt und erneut eine hitzige Diskussion über die Todesstrafe entfacht. Dr. Marquette, der sowohl Staatsbürger Frankreichs als auch der Vereinigten Staaten ist, behauptet, er leide an Schizophrenie. Erst vergangene Woche richtete Frankreich eine offizielle Beschwerde beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag ein, die sich gegen die Vereinigten Staaten anlässlich der Behandlung Dr. Marquettes zum Zeitpunkt seiner Festnahme richtet. Protestkundgebungen in Miami und Washington ...» Julia hetzte zur Tür, riss sie auf und nahm den Miami Herald von der Fußmatte. Als sie durch das Fenster im Hausflur
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