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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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anzusprechen. Das Wasser wurde langsam kalt und riss sie aus ihrer Starre. Sie wusch sich schnell das Shampoo aus den Haaren, schlüpfte dann in ihren Frottebademantel und ging in die Küche, dicht gefolgt von Moose. Vor dem Duschen hatte sie Kaffee aufgesetzt, und der Duft erfüllte nun das ganze Apartment. Sie schenkte sich eine Tasse ein und zündete sich die erste Zigarette des Tages an – in letzter Zeit ihr bevorzugtes Frühstück. Es war schon erstaunlich, wie schnell man schlechten Gewohnheiten zum Opfer fiel. Sie öffnete das Küchenfenster und blickte auf den verlassenen Pool des Gebäudekomplexes. Leere Bierdosen und einige Likörflaschen quollen aus einem Mülleimer, auf einem Liegestuhl stapelten sich Pizzaschachteln. Jemand musste in der vergangenen Nacht eine ordentliche Party gefeiert haben ... Während sie einen Ring aus Zigarettenqualm aus dem Fenster blies, fragte sie sich, ob es wohl Zufall war, dass ihr Bruder die gleiche Zigarettenmarke bevorzugte wie sie. Er trank auch seinen Kaffee genauso wie sie, mit zwei Löffeln Zucker und Sahne – Tee wiederum tranken sie beide ohne Zucker. Und auch beim Essen waren sie sich ähnlich – sie hassten beide Tomaten und liebten dafür Peperoni-Pizza mit schwarzen Oliven, Juicy-Fruit-Kaugummi und Schokoriegel von
« 3 Musketeers». Es waren seltsame, aber harmlose Eigenheiten, die sie beide gemeinsam hatten und die sie auf unsichtbare Art miteinander verbanden. Mit ein wenig Unbehagen fragte sie sich manchmal, wie viele dieser Gemeinsamkeiten es noch gab ... In wenigen Wochen würde Andrew endlich nach Rockland verlegt werden, was sowohl aufregend als auch zermürbend war. Obwohl es sich auch bei Rockland um eine geschlossene Anstalt handelte, war die Sicherheitsstufe ein wenig niedriger und die Regeln lockerer. Vielleicht durfte Andy in ihrer Begleitung sogar irgendwann einmal das Gelände verlassen oder gar für ein ganzes Wochenende mit ihr nach Hause kommen. Das Ziel war, dass er eines Tages wieder vollständig in die Gesellschaft integriert werden konnte. Nach vierzehn Jahren hinter Stacheldraht und Gitterfenstern würde dies ein überwältigender, berauschender und zugleich sicher auch beängstigender Moment für ihn sein. Es waren Jahre gewesen, in denen er nicht länger als bis zehn hatte aufbleiben oder bis sieben schlafen dürfen und in denen er nachts alle halbe Stunde kontrolliert worden war. In denen er sich weder die Art noch den Zeitpunkt seines Essens hatte aussuchen dürfen. In denen er weder in einem Park spazieren oder in einem Supermarkt einkaufen gegangen war. Was würde ein Leben in Freiheit für ihn bedeuten? Wie würde es aussehen, schmecken, sich anfühlen oder anhören? Sie musste an all die Angeklagten denken, für die sie als Staatsanwältin ohne auch nur mit der Wimper zu zucken lange Haftstrafen gefordert hatte. Nach einer Weile waren Jahre für sie zu bloßen Zahlen geworden und die Angeklagten lediglich Namen auf einem Blatt Papier. Die Staatsanwaltschaft fordert für diesen Angeklagten zwanzig Jahre Haft und eine Bewährungsfrist von fünf Jahren. Der Angeklagte ist ein Gewohnheitsverbrecher, daher verlangen wir zehn Jahre Haft und zehn Jahre Bewährung Der Angeklagte bekennt sich schuldig. Die Staatsanwaltschaft fordert in diesem Fall die gesetzliche Höchststrafe und die Mindeststrafe von drei Jahren für illegalen Waffenbesitz. Julia schloss die Augen und spürte plötzlich einen überwältigenden Druck in sich aufsteigen. Es war der Druck, zu gefallen, zu gewinnen, das Richtige zu tun, obwohl sie gar nicht mehr wusste, was das Richtige überhaupt war. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihren Bruder anzurufen. Sie wollte noch einmal seine Stimme hören, bevor sie ins Auto stieg und zu der Zirkusveranstaltung fuhr, die sie bei Gericht erwarten würde. Auch wenn Andrew nicht wusste, um welchen Fall es sich handelte oder worum es dabei ging, wusste er doch, dass heute ihr erster Tag in einer großen Verhandlung war, vor der sie große Angst hatte. Letzte Woche hatte er ihr erzählt, dass er vor dem Traum einer Baseballkarriere Anwalt hatte werden wollen. Eine weitere Gemeinsamkeit. Ein pinkfarbener Schwimmreif trieb über das Wasser des Swimmingpools, und Julia musste unwillkürlich an den Pool im Garten der Marquettes denken, an die Kinderspielsachen, die auf dem Wasser trieben, das große Schaukelgerüst, die Wasserrutsche und das mit bunter Kreide aufgemalte Hüpf-Spiel auf dem Gehweg. Doch hinter dieser perfekt

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