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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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von ihr.
« Wow», sagte er und trat einen Schritt zurück.
« Aber ich möchte nicht derjenige sein, mit dem du dich über einen anderen hinwegtröstest, Julia. Das würde nur schiefgehen.» Julia wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Auf einmal fühlte sie sich nur noch leer. Als Lat sich umdrehte und die Treppe hinunterging, blickte sie ihm nach und wünschte sich einmal mehr, sie könnte das Unmögliche möglich machen und die Zeit zurückdrehen. Sie lauschte dem Geräusch des Motorrads, bis es irgendwo in der Ferne verebbte. Dann schloss sie die Tür ihres Apartments hinter sich und weinte. Aber nicht um Rick Bellido.
KAPITEL 80
    B EI EINEM Strafprozess war es die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei zu beweisen. Der Angeklagte hingegen war nicht dazu verpflichtet, eine Aussage zu machen, und die Verteidigung musste keinen einzigen Zeugen in den Zeugenstand rufen. Bei Prozessen, in denen auf Unzurechnungsfähigkeit plä- diert wurde, lag die Sache jedoch anders. In diesem Fall musste die Verteidigung beweisen, dass der Angeklagte schuldunfähig war. Die Staatsanwaltschaft musste also beweisen, dass der Angeklagte das Verbrechen verübt hatte, die Verteidigung musste beweisen, dass er aufgrund seiner Unzurechnungsfähigkeit nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte, woraufhin die Beweislast wieder zurück an die Staatsanwaltschaft fiel, die nun beweisen musste, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt sehr wohl zurechnungsfähig gewesen war. Dieses komplizierte juristische Hin und Her hatte zur Folge, dass die schweren Geschütze erst in der zweiten Halbzeit aufgefahren wurden, wenn sich beide Parteien warmgemacht und gegenseitig abgeschätzt hatten. Die Eröffiiungsplädoyers waren für Montagmorgen angesetzt, und Julia würde das der Staatsanwaltschaft übernehmen. Es war ein Zugeständnis an ihre offizielle Funktion als zweite Anwältin. Die Eröffnungsplädoyers waren die erste Gelegenheit für beide Seiten, zu den Geschworenen zu sprechen und detailliert darzulegen, welche Beweise sie in der Hand hatten, welche Zeugen aufgerufen werden und welche Bedeutung die Zeugenaussagen haben würden – Einzelheiten, die bislang weder an die Presse weitergegeben noch in irgendeinem Bericht erwähnt worden waren. Julia wusste, dass der erste Eindruck bei den Geschworenen oft der wichtigste war. Die meisten Fälle waren bereits gewonnen oder verloren, bevor der erste Zeuge den Zeugenstand betreten hatte. Wenn die Geschworenen einen mochten, wenn sie während des Plädoyers mitfieberten, wenn sie einem vertrauten, dann hatte man gute Karten. Doch man musste auch halten, was man versprochen hatte, sonst war das harterarbeitete Vertrauen schnell wieder verschwunden, und in den Augen der Geschworenen wäre man nichts weiter als ein Lügner. Die halbe Nacht lang hatte Julia im Geiste an ihrem Plädoyer gefeilt. Wie bereits so oft in den Wochen davor. Es war eine alte Angewohnheit der Staatsanwälte. Sobald man einem Fall zugeteilt war, sich die Akten angesehen und mit den ersten Zeugen gesprochen hatte, begann man, sich über das Erörfnungsplädoyer Gedanken zu machen – welche Fakten und welcher Zeuge der Geschichte Leben einhauchen oder gar zu Tränen rühren konnte. Julia stellte sich immer wieder vor, wie sie die Geschworenen allein durch die Kraft ihrer Worte in die Nacht des achten Oktobers versetzte, ihnen die blutbefleckten, dunklen Räume zeigte und sie das unvorstellbare Grauen spüren ließ, das sie selbst empfunden hatte. Sie wollte, dass jene zwölf Männer und Frauen die gleiche Achterbahnfahrt der Gefühle durchmachten wie sie selbst – den Schock, das Entsetzen, die Traurigkeit und schließlich den unbändigen Zorn auf diesen Vater, der seinen eigenen Kindern, seiner eigenen Frau etwas so Grauenvolles angetan hatte. Während der vergangenen Monate, in denen immer mehr Fakten hinzugekommen waren und der Fall Stück für Stück Gestalt annahm, hatte Julia ihr Eröffnungsplädoyer weiter ausgearbeitet – sowohl auf dem Papier als auch mündlich für Rick und die Generalprobe, die er ihr abverlangt und vor wenigen Wochen mit seiner Videokamera aufgezeichnet hatte. Damals hatte sie zusammen mit Dayanara noch darüber gelacht, dass ihr Chef das Outfit für den Prozess auswählen wollte. Jetzt fand sie es abstoßend und kontrollsüchtig. In den letzten Stunden vor Prozessbeginn passten die Puzzleteile für Julia nicht mehr so gut zusammen, wie dies einmal der Fall

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