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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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gewesen war. Sie hatte das ganze Wochenende lang versucht, die Teile wieder in die richtige Ordnung zu bringen, aber sie schienen sich ständig zu verändern wie die Seiten eines Zauberwürfels. War die gelbe Seite perfekt, dann stimmte die rote nicht. Hatte sie die rote wiederhergestellt, herrschte auf der grünen völliges Chaos. Sie fand einfach keine Lösung, die alle Seiten, alle Teile zu einem befriedigenden Ganzen vereinte. Sie grübelte, bis sie Kopfschmerzen bekam und nicht mehr wusste, was richtig und was falsch war und wem sie noch vertrauen konnte. Doch die Zweifel blieben, Zweifel, die sie in der Form noch bei keinem anderen Fall gehabt hatte. Aber schließlich war dieser Fall auch etwas Besonderes. Tante Nora hatte die ganze Zeit über recht gehabt – David Marquette war zu nahe dran. Die Grenzen ihres Urteilsvermögens waren bis zur Unkenntlichkeit verschwommen.
    « Es geht nicht darum, was Sie glauben», hatte ihr Professor für Strafrecht einmal während des Seminars gesagt, es geht darum, was Sie die Geschworenen glauben machen. Am Ende ist es das Einzige, was zählt.» Julia legte die Videokassette mit der Aufnahme, die Rick von ihr gemacht hatte, in den Videorecorder. Kurz darauf sah sie sich selbstsicher durch einen leeren Gerichtssaal schreiten und das Eröffnungsplädoyer halten, an dem sie monatelang gearbeitet hatte. Es war, als würde sie einer Fremden zusehen, die während des Plädoyers alle Informationen wegließ, die Zweifel schüren könnten. So ergab die Geschichte selbst für Julia einen Sinn. Auch Rick war offenbar hochzufrieden gewesen, denn bereits nach einigen Einstellungen hatte er ihr Plädoyer für perfekt erklärt. Vielleicht war das der Trick, dachte Julia am Montagmorgen, als die aufgehende Sonne die Zimmerdecke in warme Pink-und Orangetöne tauchte. Vielleicht mussten manche Puzzleteile gar nicht ins Bild passen, weil sie ohnehin niemand zu Gesicht bekam. Vielleicht mussten die Geschworenen gar nicht die ganze Geschichte hören ... Ein paar Stunden später, in einem bis auf den letzten Platz besetzten Gerichtssaal, trat Julia hinter dem Tisch der Staatsanwaltschaft hervor und bot den Geschworenen genau die Show, die sie wochenlang einstudiert hatte, sagte den auswendig gelernten Text auf und vollführte die eingeübten Bewegungen.
« Meine Damen und Herren, ich werde Ihnen nun eine Geschichte über einen mehrfachen brutalen Mord erzählen. Eine Geschichte, die keinen Sinn zu ergeben scheint und dadurch umso tragischer wird. Eine Geschichte, die Sie verängstigen, schockieren, entsetzen, verfolgen wird. Eine Geschichte, die selbst den Abgebrühtesten unter Ihnen die Tränen in die Augen treiben wird ...» Während sie redete, fragte sie sich, ob die zwölf Männer und Frauen sie durchschauten, ob sie hinter all den aufgesetzten Gesten die Schwindlerin erkannten, die sie in Wirklichkeit war. Während ihres Plädoyers saß Marquette nur wenige Meter von ihr entfernt. Seine Anwälte hatten dafür gesorgt, dass er gewaschen und frisch rasiert war, hatten ihm die Haare schneiden lassen und ihn in einen neuen Anzug gesteckt – aber an seinem abwesenden Gesichtsausdruck und dem leeren, starren Blick hatten sie nichts ändern können.
« ‹Er kommt zurück›, flüsterte sie im Dunkeln ins Telefon, genau in dem Moment, als die letzte Person, die die kleine, sechs Jahre alte Emma Louise Marquette je in ihrem Leben sehen würde, das Licht anknipste. Sie werden Emmas verängstigte Stimme hören, meine Damen und Herren, genau in dem Moment, als der Mörder sie in ihrem hübschen lilafarbenen Zimmer hinter einer Kiste mit Barbie-Puppen und einem HelloKitty-Stuhl entdeckt. Dem Moment, als er mit dem Messer in der Hand auf sie zukommt. Exakt der Moment, als Emma weiß, dass sie sterben wird. ‹O nein, nein ...›, werden Sie Emma flehen hören, kurz bevor der Mörder über sie herfällt.» Julia machte eine wohlüberlegte Pause und sah hinüber zu David Marquette.
« Daddy, nein!» Einige der Geschworenen brachen in Tränen aus, andere wurden rot vor Zorn oder schüttelten angewidert den Kopf. Für Julia mochte ihr Plädoyer seine Emotionalität und Überzeugungskraft verloren haben, doch die Geschworenen schienen davon tatsächlich nichts zu bemerken. Ihre Geschichte rief genau die Reaktion hervor, die Rick, Charley Rifkin, Jerry Tigler und all die Presseleute mit ihren Kameras haben wollten. Und als Julia ihr Plädoyer eine Stunde und fünfundvierzig Minuten später beendete,

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