Vater unser
Südens gelehrt – hier hielten die Sekretärinnen das Zepter in der Hand. Praktisch immun gegen Rausschmiss, lag es in ihrer Macht, einen Staatsanwalt zu unterstützen oder bloßzustellen – vor Richtern, Kollegen, Abteilungsleitern. Und Liebhabern. Und so etwas brauchte Julia wirklich nicht. Nein, sie würde andere Methoden finden.
« Was kann ich für Sie tun?», fragte Marisol seufzend und hielt die Hand über den Hörer. Das breite Lächeln war verschwunden.
« Guten Morgen», sagte Julia strahlend.
« Ich wollte gar nicht stören. Marisol, nicht wahr? Wir haben telefoniert. Ich bin Julia Valenciano, aus Richter Farleys Abteilung. Ich bin wegen der Zeugenvernehmungen mit Rick Bellido hier. Ist er da?» Gelbe Post-its und Fotos von halbnackten, eingeölten Männern schmückten die Stellwände von Marisols Arbeitsplatz. Auf einem Ausschnitt aus People en Espanol saß Ricky Martin mit Antonio Banderas und ein paar Sternchen, die Julia nicht erkannte, am Pool. Andere dazu montierte Gesichter waren Julia allerdings allzu vertraut – darunter ein Ermittler aus dem Drogendezernat, den sie bisher gemocht hatte. Eine Weile hatten sie sich häufiger gesehen. Sie schluckte. Es dauerte einen Augenblick, bis bei Marisol der Groschen fiel.
« Ach ja», sagte sie argwöhnisch.
« Gehen Sie einfach rein. Die Detectives sind schon seit einer ganzen Weile da.»
« Ich weiß, ich bin spät dran. Danke.» Julia wandte sich zum Gehen. Dann drehte sie sich noch einmal um und fügte hinzu:
« Tolles T-Shirt. Die Farbe steht Ihnen ausgezeichnet. Ich selber halte zum anderen Team. Brangelina ist einfach ein süßes Paar.» Marisol blickte an sich hinunter, als könne sie nicht glauben, was Julia gerade gesagt hatte.
« Danke», erwiderte sie, und ihr frostiger Gesichtsausdruck taute auf. Dann fragte sie:
« Hat das mit Ihren Vorladungen geklappt?» Noch bevor Julia antworten konnte, deutete sie auf das Chaos auf ihrem mit Chipskrümeln übersäten Schreibtisch und erklärte seufzend:
« Ich hätte Ihnen wirklich gern geholfen, aber ich bin viel zu beschäftigt. Diese Woche geht es einfach drunter und drüber. Das habe ich Rick auch schon gesagt. Sehen Sie sich nur meinen Schreibtisch an.» Julia biss sich auf die Zunge.
« Wem sagen Sie das. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie völlig überlastet sind. Die Sekretärin aus meiner Abteilung hat mir geholfen, und bis jetzt hat alles wunderbar geklappt.»
« Vielleicht habe ich ja das nächste Mal ein bisschen mehr Zeit.» Das Eis begann zu schmelzen.
« Das wäre großartig.»
« Schicke Frisur», sagte Marisol.
« Vielen Dank! Wenn die Luftfeuchtigkeit ansteigt, sieht es allerdings scheußlich aus», erwiderte Julia.
« In der Highschool haben sie mich Krauskopf genannt.» Sie lächelte und hielt kurz inne.
« Ich muss los. Schön, dass wir uns endlich kennengelernt haben. Bis bald.» Sie winkte noch einmal fröhlich und schlug den Weg zu Ricks Büro ein. Doch kaum war sie außer Sichtweite, schüttelte sie sich. Der Plausch mit Marisol war wie Hustensaft – auch wenn er half, er schmeckte widerlich. Verdammt, nun war sie zu spät. Julia klopfte zaghaft an, und jemand rief
« Herein». Langsam öffnete sie die Tür. John Latarrino und Steve Brill saßen vor Ricks Schreibtisch, eine Kiste mit Akten zu ihren Füßen. Rick hatte ihnen den Rücken zugewandt und telefonierte. Die Atmosphäre im Raum war angespannt, und Julia konnte nur hoffen, dass es nichts mit ihr zu tun hatte.
« Hallo zusammen», sagte sie zögernd.
« Habe ich viel verpasst?»
« Nein», erwiderte Lat.
« Rick hat die ganze Zeit telefoniert.» Er stand auf und bot ihr seinen Platz an.
« Bitte setzen Sie sich, Julia. Ich stehe sowieso lieber.»
« Ich kann mir einen Stuhl von draußen –» Lat schüttelte den Kopf.
« Setzen Sie sich. Wenn ich einen Stuhl brauche, hole ich mir einen.» Er deutete auf die Kiste.
« Wir haben Ihnen ein Geschenk mitgebracht.»
« Ich dachte, Ihr Name wäre Julie», sagte Brill und kratzte sich am Kopf. Lat schlug Brill mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.
« Glauben Sie mir, Julia, je länger man ihn kennt, desto unausstehlicher wird er. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Wie an ein Furunkel.»
« Hey, ich hab ein Hühnerauge!» Brill streckte Lat seinen Fuß entgegen.
« Ich darf nicht stehen.»
« Wie war es in Philadelphia?», fragte Julia.
« Wie kommt die Familie zurecht?»
« Wir haben es Rick gerade erzählt. Offenbar hatte unser Angeklagter außereheliche
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