Vater unser
dem üblichen Weg nicht weiterkommt. Er war derjenige, der Marvel Comics und Warner Brothers dafür verantwortlich gemacht hat, dass ein Zehnjähriger von seinem psychopathischen Freund zu Tode geprügelt wurde. Levenson hat argumentiert, der arme Junge hätte einfach zu viele Zeichentrickfilme gesehen – ‹CartoonDementia› hat er es genannt. Der arme Kleine hätte geglaubt, es würde seinem Freund nicht wehtun, wenn er ihm mit dem Baseballschläger auf den Kopf schlägt.»
« Aber damit ist Levenson nicht durchgekommen», entgegnete Lat.
« Ich erinnere mich an den Fall.»
« In dem Fall nicht. Aber trotzdem – denkt daran, es reicht, wenn nur ein Geschworener auf nicht schuldig plädiert. Wir können nicht wissen, welche Strategie Levenson verfolgt. Unsere Aufgabe ist es, den Schlag zu erkennen, bevor er uns trifit.»
KAPITEL 30
A M MITTWOCH, den zweiten November, um 15 Uhr 30 stimmten die Geschworenen der Anklageerhebung wegen vierfachen Mordes gegen Dr. David Marquette zu. Die dreizehn Männer und acht Frauen der Grand Jury hatten sich knapp zwanzig Minuten beraten. Für eine Anklage waren nur zwölf Stimmen nötig, doch Martin Yars teilte Rick vertraulich mit, er wüsste aus sicherer Quelle, dass die Entscheidung einstimmig gefallen war. Nach dem Gesetz blieb alles, was hinter den geschlossenen Türen der Grand Jury geschah – sogar die Stimmenverteilung –, geheim. Die Anklageerhebung fand am nächsten Morgen um neun Uhr vor Richter Farley statt, als es im ganzen Haus bereits drunter und drüber ging. In Saal drei verhandelte Richter Flowers den Fall eines Dreizehnjährigen, der seinem besten Freund auf dem Schulklo die Kehle durchgeschnitten hatte. In Saal fünf verurteilte Richter Marias einen Neunzehnjährigen zu lebenslänglich, der einen Drogendealer und dessen Mutter mit einer Schrotflinte erschossen hatte. Um elf Uhr würde sich Richter Houchens in 6.10 mit dem Klagabweisungsantrag eines Vaters auseinandersetzen, der seine zwei fünfjährigen Zwillingstöchter sexuell missbraucht und auf einer Kirchenfreizeit mit Gonorrhö angesteckt haben sollte. Brandstiftung in 2.6 vor Richter Johnson. Bewaffneter Raubüberfall in 2.10. Kokainhandel, 5.7. Egal, welche Tür man öffnete, dahinter wurden grauenhafte Delikte verhandelt. Doch als Julia im strömenden Regen über die Straße hastete – ein Spießrutenlauf durch riesige Pfützen –, wusste sie, dass keine dieser Tragödien den Presseauflauf vor dem Gerichtsgebäude verursachte. Die Medien waren wegen Marquette gekommen. Als sie in ihren aufgeweichten Wildlederpumps an den Übertragungswagen vorbeilief, deren gigantische Satellitenantennen fünfzehn Meter hinauf in den Wolkenbruch ragten, dachte sie, wie seltsam es war, dass man nie voraussagen konnte, welcher Fall die Schlagzeilen beherrschen würde. Wie bei einem uralten Theaterstück, das plötzlich zum Kassenschlager wurde, oder einem Romandebüt, das auf der Bestsellerliste landete, ließ sich nicht prophezeien, welcher Fall den Nerv der Massen treffen würde und welcher nicht. Manchmal wurde am Anfang viel Aufhebens veranstaltet, doch mit Fortschreiten der Verhandlung ließ das Interesse nach, und das Urteil reichte nicht einmal mehr für den Lokalteil. Andere Prozesse fanden gar keine Erwähnung. Doch die unheimlichen Ausnahmen – Scott Peterson, O. J. Simpson, Michael Jackson, Bill Bantling – packten und hielten das nationale Interesse, lösten stundenlange Fernsehdiskussionen aus und füllten in kürzester Zeit ganze Regale in der Abteilung
« Wahre Verbrechen» in den Buchhandlungen, noch bevor auch nur die Tinte auf den Verhaftungsprotokollen getrocknet war. Solche Fälle – die mit den großen Namen – konnten Karrieren machen oder ruinieren und ein ganzes Land von Workaholics in den Bann ziehen, die sich normalerweise nicht einmal die Zeit nahmen, mit ihren eigenen Kindern zu Abend zu essen. Jetzt saßen sie mitten am Nachmittag vor dem Fernseher, um live dabei zu sein, wenn das Urteil verkündet wurde. Glücklicherweise war es heute noch nicht ganz so schlimm. Aber auch wenn David Marquette nicht im Newsticker von Good Morning America oder CNN gelandet war, hatte sich die unbarmherzige Lokalpresse von Miami bereits in den Fall verbissen. Und das reichte, um Julia nervös zu machen. Vor den Mahagonitüren von Saal 4.10 hatten sich die vertrauten Gesich ter aus den Abendnachrichten mit ihren Kamerateams postiert. Eine Sicherheitsschleuse war aufgebaut worden, mitsamt einem
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