Vater unser
Julia zögerte und trank noch einen Schluck.
« Es ist der Fall der Ärztefamilie, Onkel Jimmy. Du weißt schon, der Mann, der seine Familie umgebracht hat.» Tante Nora erstarrte.
« Wirst du im Fernsehen auftreten?», fragte Jimmy und warf Nora einen verstohlenen Blick zu.
« Vielleicht, aber ich bin ja nur zweite Anwältin.»
« So so, zweite Garnitur», murmelte Onkel Jimmy und nickte geistesabwesend in Richtung des kleinen Fernsehers, der auf der Anrichte stand. Der Moderator sprach gerade über die Miami Dolphins.
« Ist das der Mann, über den sie in den Zeitungen schreiben?», fragte Tante Nora.
« Der mit der Frau aus Jersey?» Sowohl im Herald als auch im Sun Sentinel waren letzte Woche Bilder von der Beerdigung abgedruckt worden.
« Ja», erwiderte Julia leise. Sie wich Noras Blick aus und starrte in ihr Weinglas. Sie hatte vorgehabt, zur Beerdigung zu gehen, bis sie erfahren hatte, dass die Leichen nach Philadelphia überführt wurden. Aus irgendeinem Grund hattes sie das Bedürfnis, sich von der Familie zu verabschieden, deren Tod sie ahnden würde. Sie wollte Jennifers Familie und Freunde kennenlernen. Sie wusste, dass sich ein Staatsanwalt normalerweise nicht derart intensiv mit den Opfern beschäftigte – zumindest nicht in Miami –, aber für Julia war es kein normaler Fall. Für sie waren Jennifer, Danny, Emma und Sophie mehr als nur Namen auf einem Blatt Papier. Sie fühlte sich auf eigenartige Weise mit ihnen verbunden, und das war es, was ihr in den blutverschmierten Fluren am Tatort so zugesetzt hatte. Auf einmal waren die schrecklichen Erinnerungen wieder da, die Albträume, so schlimm wie seit Jahren nicht mehr. Wenn Julia kurz vor dem Morgengrauen schweißgebadet aufwachte, lag sie mit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit und überlegte ernsthaft, ob es nicht besser wäre, den Fall abzugeben. Sich von all dem abzuwenden, das ihr jene eine Nacht wieder in Erinnerung rief. Sie wollte davonrennen mit dem dumpfen Pochen, das von ihrem Schmerz übriggeblieben war. Doch sie kam einfach nicht von dem Fall los. Je länger sie sich mit ihm beschäftigte und je größer ihre Angst wurde, desto stärker schlug er sie in seinen Bann. Und wenn schließlich das Tageslicht durch die Fenster fiel und die dunklen Schatten vertrieb, lösten sich ihre Zweifel in Luft auf.
« Heilige Mutter Gottes», sagte Nora, legte das Messer hin und stützte die Hände auf der Spüle ab. Julia wandte sich wieder ihrem Onkel zu.
« Wie gesagt, ich verhandle den Fall gemeinsam mit einem Staatsanwalt von Major Crimes. Sein Name ist Rick Bellido. Vielleicht bringe ich ihn mal mit und stelle ihn euch vor. Ich bin sicher, dass deine Soßen ihn begeistern würden, Tante Nora.»
« Ich mag es nicht, dass du mit solchen Leuten in Berührung kommst, Julia.» Noras Stimme klang verbittert.
« Du solltest nichts mit Kriminellen zu tun haben. Das ist nicht gut für dich.»
« Kriminelle sind für niemanden gut, Tante Nora. Und ich sorge dafür, dass sie für ihre Taten bestraft werden.»
« Das klingt nach etwas Ernstem», sagte Onkel Jimmy, den Blick immer noch auf den Fernseher gerichtet.
« Ist dieser Staatsanwalt dein Freund?» Andere mochten es seltsam und verwirrend finden, gleichzeitig zwei völlig unterschiedliche Unterhaltungen zu führen, doch Julia war daran gewöhnt.
« Ehrlich gesagt weiß ich das nicht so genau, Onkel Jimmy. Vielleicht. Hoffentlich. Ich arbeite daran.»
« Du hast einen Freund?», fragte Nora mit hochgezogenen Augenbrauen. Jimmy verschwand ins Wohnzimmer.
« Ich sagte, vielleicht.» Julia hob abwehrend die Hände.
« Wir sind einmal miteinander ausgegangen, das ist alles.» Als Rick sagte, er hätte sie vermisst, hatte er einiges wiedergutgemacht. Auch wenn sie sich immer noch nicht den Samstagabend für ihn freihielt. Morgen Abend hatte er sie offiziell zum Essen eingeladen – ins Prime 112, ein In-Lokal in Miami Beach.
« Ich will ihn kennenlernen», sagte Nora.
« Mal sehen», erwiderte sie und trank ihren Wein aus. Mal sehen, was ihre Tante sagte, wenn sie herausfand, dass Julias neuer Liebhaber nicht viel jünger war als Nora selbst.
« Wann können wir denn essen? Das duftet wirklich verführerisch.» Sie nahm die Salatschüssel und wollte ins Esszimmer gehen. Doch Tante Nora hielt sie am Arm fest.
« Hör mal, Liebes. Jimmy und ich waren nie dafür, dass du zur Staatsanwaltschaft gehst. Was ist denn so schlimm an einem Posten in einer Anwaltskanzlei? Dort hast du nette Kollegen, verdienst viel
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